Meinung

Nils Schmid: Warum wir dringend eine Neuausrichtung der Chinapolitik brauchen

Corona, Hongkong und Propaganda: Die Liste der Dissonanzen mit Peking wird länger. Deswegen fordert Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, eine Neuausrichtung der Chinapolitik.
von · 15. Juni 2020
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Mit gerade einmal einer Stunde fiel der diesjährige Arbeitsbericht, den der chinesische Premierminister auf dem Nationalen Volkskongress vortrug, vergleichsweise kurz aus. Mit ernster Miene wies Li Keqiang in der Großen Halle des Volkes auf die großen Erfolge bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie hin und auf die Offenheit und Transparenz, mit der man sich dabei in die internationale Zusammenarbeit einbrachte. Und mit Blick auf Chinas Rolle in der Welt zeichnete der Premier das Bild einer verantwortungsvollen Großmacht – eines Stabilitätsbringers und Friedensförderers. Die Botschaft, die in der Weltgemeinschaft vom perfekt durchchoreografierten 13. Nationalen Volkskongress ankam, hätte kaum gegensätzlicher sein können. Denn mit der dort beschlossenen Einführung eines nationalen Sicherheitsgesetzes greift China rücksichtslos und unrechtmäßig in die Autonomie Hongkongs ein.

Mutig gegenüber China auftreten

Chinas zunehmend aggressives Auftreten führt uns vor Augen, wie dringend wir eine Neuausrichtung unserer Chinapolitik brauchen. Zu lange war unser Blick nach Fernost getrübt von ökonomischen Interessen; zu lange erkannten wir nicht, wie allumfassend die chinesische Herausforderung ist. Aufbauend auf der Einsicht, dass China sowohl Partner*in, Wettbewerber*in als auch Systemgegenspieler*in ist, müssen wir eine gemeinsame europäische Politik des kritischen Engagements entwickeln, die ausgehend von einer festen Westbindung mutig unsere Interessen und Werte gegenüber China verteidigt.

Wir sind auf ein partnerschaftliches Verhältnis zu China angewiesen, das liegt in Covid-19-Zeiten auf der Hand. Die rasche globale Ausbreitung des Virus – von Wuhan bis Washington – führte uns vor Augen, wie weitreichend sich das Handeln bzw. Nichthandeln der chinesischen Regierung bis tief hinein in unser alltägliches Leben auswirken kann. Bei globalen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie gibt es zwar eine große Abhängigkeit von China – allerdings eine wechselseitige. Denn schon aus reinem Eigeninteresse ist China auf die Kooperation mit uns angewiesen. In unserer durchglobalisierten Welt kann das weltweite Infektionsgeschehen nur durch multilaterale Zusammenarbeit nachhaltig unter Kontrolle gebracht werden.

Unabhängige Untersuchung des Corona-Ursprungs nötig

Zu einer partnerschaftlichen Kooperation in der Pandemie gehört aber auch eine ehrliche Fehlerkultur – denn nur so können wir die richtigen Lehren für die Gesundheitskrisen von morgen ziehen. Die Liste mit Kritikpunkten am chinesischen Vorgehen ist lang – und reicht von mangelnder Transparenz zum Beginn des Ausbruchs bis zur aktuellen Propagandakampagne, mit der China sein Narrativ vom eigenen Erfolg verbreitet und dabei auch vor aggressiver Einflussnahme nicht zurückschreckt. Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit erkennt aber auch die Leistungen Chinas bei der Eindämmung der Pandemie an. Und in den kommenden Monaten kann die Kommunistische Partei vielfach beweisen, wie wichtig ihr internationale Solidarität ist, wenn es etwa um die Impfstoffsuche oder die Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht.

Unbedingt nötig ist auch eine unabhängige Untersuchung des Ursprungs des neuartigen Virus. Dafür braucht es die umfassende und offene Mitarbeit der chinesischen Behörden. Wie bei anderen Virusinfektionen könnte die internationale Gemeinschaft aus einer Untersuchung unter der Ägide der WHO wichtige Schlussfolgerungen ziehen, die bei der zukünftigen Vermeidung und Bekämpfung von Ausbrüchen helfen können. Davon würde auch China, das nicht zum ersten Mal das Ursprungsland einer Pandemie ist, maßgeblich profitieren.

Lieferketten für systemrelevante Produkte auf den Prüfstand

Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Ausbruchs führten weltweit zu dramatischen ökonomischen Verwerfungen, die nicht nur unsere Wirtschaft hart treffen, sondern auch die chinesische. Zum ersten Mal seit 1990 gab die Kommunistische Partei deshalb auf dem Nationalen Volkskongress keine Wachstumsprognose aus. Aufgrund der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen hängen die Schicksale unserer nationalen Ökonomien eng miteinander zusammen. Deshalb profitieren wir auf der einen Seite vom wirtschaftlichen Wiederaufbau des jeweils anderen. Auf der anderen Seite wurde uns aber auch gerade wieder einmal vor Augen geführt, wie gefährlich asymmetrische Abhängigkeiten in systemrelevanten Bereichen sind.

Als in China Corona-bedingt die Produktion zurückging beziehungsweise teilweise stillstand, kam es bei uns zu Lieferengpässen – und das bei medizinischen Gütern, die in einer Pandemie lebensnotwendig sind. Die Lehre daraus muss sein, dass wir Lieferketten für systemrelevante Produkte auf den Prüfstand stellen und kritisch evaluieren, wo es einseitige Abhängigkeit gibt, die uns verletzbar macht. Eine solche Risikoanalyse wird zur Einsicht führen, dass wir Lieferketten diversifizieren und die Produktion ausgewählter Güter zurückholen müssen – auch wenn es dadurch zu höheren Preisen kommt.

Systemrivalität mit China schreitet voran

In die falsche Richtung geht allerdings die Forderung nach einer vollständigen Entkopplung von China – ob als Reaktion auf Corona oder wegen der Befürchtung, sonst im Großmächtekonflikt zwischen den USA und China zerrieben zu werden. Denn von einer umfassenden Entflechtung der Wirtschafts- und Technologiesphären der beiden größten Volkswirtschaften profitiert niemand – erst recht nicht die deutsche Exportwirtschaft. China ist bereits heute unser wichtigster Handelspartner. Nach einem kurzen Corona-bedingten Wachstumsrückgang wird sich auch der langfristige Trend fortsetzen und China zur weltweit stärksten Wirtschaftsmacht aufrücken. Statt einer Entkopplung von China sollten wir vielmehr auf eine partielle Neuverkopplung abzielen, die einseitige Abhängigkeiten in wichtigen Bereichen auflöst und in anderen Interdependenz fördert, denn wechselseitige Abhängigkeiten schaffen gemeinsame Interessen – die Voraussetzung für Partnerschaft.

Corona treibt allerdings auch die Systemrivalität mit China weiter an. Es steht die Frage im Raum, welches Modell die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg am besten bewältigen kann: das westliche System eines demokratischen Rechtsstaats mit freier Marktwirtschaft oder das chinesische System einer Ein-Parteien-Diktatur mit Staatswirtschaft. Eine abschließende Antwort kann es inmitten der Pandemie nicht geben.

Damit am triumphalen Vorgehen Chinas aber bereits jetzt keine Zweifel aufkommen, läuft die Propagandamaschinerie bereits auf Hochtouren. Und beim globalen Kampf um Deutungshoheit geht China nicht zimperlich vor, wie das aggressive Auftreten der jungen „Wolfskrieger“-Diplomat*innen zeigt. Beispielsweise verbreitete ein Sprecher des Außenministeriums auf die Twitter die Verschwörungstheorie, dass es die US-Armee sein könnte, die den Virus nach Wuhan gebracht hat. Wichtig, dass die EU mittlerweile China klar als Urheber*in gezielter Einflussmaßnahmen und Desinformationskampagnen benennt und die eigene strategische Kommunikation verstärkt hat. Die Ankündigung der EU-Kommission, Desinformation noch härter zu bekämpfen, muss nun konsequent umgesetzt werden.

Hongkong hebt nun den Systemkonflikt auf eine neue Stufe, die sich nur noch schwer mit dem Wort Rivalität beschreiben lässt. In den Straßen Hongkongs stehen sich nicht nur Demonstranten und Sicherheitskräfte in einer kaum mehr überbrückbaren Gegnerschaft gegenüber – sondern auch ein am westlichen Wertekanon orientiertes und ein autoritäres System. Gegenüber der chinesischen Regierung dürfen wir keine Zweifel aufkommen lassen, dass wir fest an der Seite der Demokraten Hongkongs stehen. Nur gemeinsam sind wir stark – das zählt auch in Corona-Zeiten für unser Verhältnis zu China. 

„Eine zweite Amtszeit von Donald Trump könnte den Zusammenhalt des Westens nachhaltig schädigen.“

Unsere Außenpolitik ist tiefverwurzelt in der transatlantischen Werte- und Sicherheitsgemeinschaft. Eine zweite Amtszeit von Donald Trump könnte den Zusammenhalt des Westens nachhaltig schädigen. Deshalb liegt unsere Hoffnung auf den US-Präsidentschaftswahlen im November, damit unter einem Präsidenten Joe Biden das transatlantische Bündnis wieder zu alter Stärke zurückfinden kann. Unabhängig davon brauchen wir mehr europäische Souveränität. Wir müssen der Bilateralisierung der Beziehungen entgegentreten, die von China zum Beispiel über die Belt and Road Initiative oder medizinischen Hilfslieferungen vorangetrieben wird. Denn nur wenn wir gemeinsam mit einer Stimme sprechen, können wir mit einer Großmacht wie China in einem politischen Dialog auf Augenhöhe unsere Werte und Interessen erfolgreich verteidigen.

Die EU braucht eine mutige China-Strategie. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, bei der China ein Schwerpunktthema wird, ist dafür der richtige Rahmen. Deutschland ist für China ein politischer und wirtschaftlicher Schlüsselpartner in Europa. Deutschland hat es zudem geschafft, mit China auch den Austausch über grundsätzliche Meinungsdifferenzen zu institutionalisieren. So gibt es seit der rot-grünen Regierungsjahre neben einem Format zu Menschenrechtsthemen auch einen Rechtsstaatsdialog. Dieser beruht auf einer deutsch-chinesischen Vereinbarung, deren Unterzeichnung sich am 30. Juni – also einen Tag vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft – bereits zum 20. Mal jährt. Es war richtig, den für September angesetzten EU-China-Gipfel wegen Corona zu verschieben. Wir sollten uns aber für einen zeitnahen Nachholtermin einsetzen. Während aus den Reihen der Opposition im Bundestag Forderungen nach einer Verschiebung als Reaktion auf das Sicherheitsgesetz für Hongkong zu hören waren, treten wir klar für ein Treffen ein. Denn es ist immer besser mit, als übereinander zu sprechen.

Erschienen am 12. Juni im ipg-Journal.

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