Niebert lobt Klima-Zukunftsmission und fordert „Turbo“ beim Ausbau
Thomas Entzeroth
Herr Niebert, Sie haben in der öffentlichen Diskussion zu den Zukunftsmissionen der SPD gesagt: „Das macht Mut!“ Warum?
Die Covid-19-Pandemie ist entstanden, weil wir verschiedene planetare und soziale Belastungsgrenzen überschritten haben. Sie zeigt: Klimakrise, Artensterben und Gesundheitskrise hängen zusammen. Die Zukunftsmissionen bringen Lösungsansätze für diese Krisen zusammen. Sie sind noch kein Programm, mit denen alle Krisen vollständig gestoppt werden. Aber sie zeigen auf: Wo wollen wir hin und wie kommen wir dorthin? Das ist ein deutliche Fortschritt. Mit den Zukunftsmissionen ist die Ziellinie fürs Bremsen der Klimakrise bei 1,5 Grad noch nicht erreicht, es muss noch nachgebessert werden. Aber die Sozialdemokratie macht sich damit auf den Weg.
Sie haben auch gesagt, dass bei der Klimaneutralität die SPD an die Wurzeln der ökologischen Wirtschaftspolitik anknüpft. Welche Wurzeln meinen Sie genau?
Klimaschutz braucht verschiedene Perspektiven und verschiedene Strategien. Da wurde in den vergangenen Jahren ein überspitzter und im Kern unzutreffender Gegensatz zwischen einer grün inspirierten und einer sozialdemokratischen Klimapolitik aufgemacht: Die einen wollen die Gesellschaft verändern versus die anderen, die stattdessen die Technik besser machen wollen. Klimaschutz als individuelle oder als gemeinsame Herausforderung? Die Einschränkungen der Covid-19-Krise haben bei uns zu 25% weniger CO2 geführt. Änderungen im Lebensstil scheinen also zu wirken. Aber eine Krise macht keine Transformation. Und die Zahlen zeigen auch: Die großen Herausforderungen um aus 25% CO2 Einsparung 100% zu machen, brauchen wir beides: soziale Innovation und technische Innovation.
Diesen Zukunftsmissionen zeigen, dass eine ökologische Industriepolitik kein nice-to-have ist. Es geht um eine industriepolitische Strategie statt ein add-on: Diese Industriepolitik muss die zentrale Wirtschaftsstrategie in die Zukunft sein. Angefangen bei Wasserstoff über Ausbau Erneuerbarer Energien bis hin zu einer Effizienz-Revolution.
Darüber hinaus brauchen wir aber auch einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem wir klären, wie wir mit knappen Ressourcen wie zum Beispiel Raum und Fläche umgehen, wie sich tatsächlich auch unser Konsum verändern muss. Interessant wird die Frage, ob die Sozialdemokratie auch bereit ist, über Industriepolitik hinauszudenken und einen sozialökologischen Gesellschaftsvertrag aufzusetzen.
Lässt sich von diesen Vorschlägen noch etwas vor der Bundestagswahl umzusetzen? Schließlich zählt jedes Jahr im Kampf gegen den Klimawandel.
Am Ende gilt das für alle Punkte. Es ist noch ein halbes Jahr bis zu den Wahlen, Die sollten nicht ungenutzt bleiben. Insbesondere bei der Beschleunigung des Ausbaus Erneuerbarer Energien zählt jeder Tag. Die erste Novelle des EEG gab es ja schon und die zweite wird gerade verhandelt. Wir brauchen dringend Ausbaupfade für Wind- und Sonnenstrom, die uns 2030 80% Erneuerbare im Netz haben lassen. Aus diversen Studien wissen wir: Wir brauchen rund zwei Prozent der Fläche Deutschlands für die Windenergie an Land, um uns dann mit Solarenergie und der Windenergie auf See vollständig erneuerbar zu versorgen. Legen wir also die zwei Prozent auf die Bundesländer um und geben diesen die Verantwortung, diese zwei Prozent zu erfüllen!
Bei wieviel Prozent stehen wir denn aktuell?
Aktuell liegen wir bei etwa 0,9 Prozent – und bei denen gibt es große Ungleichgewichte: Während einige Länder wie Niedersachsen, Mecklenburg oder Schleswig-Holstein weit über Durchschnitt liegen, wird in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ausgebremst.
Das ist aber das zentrale Problem dieser Debatte: Wir müssen jetzt von einer Abschalt-Debatte, also bei Kohle und Atomkraft, zu einer Einschalt-Debatte kommen um Windkraft und Photovoltaik wirklich deutlich auszubauen. Viele Sozialdemokrat*innen vor Ort oder auch auf Bundesebene wie Matthias Miersch, Jochen Flasbarth oder Svenja Schulze versuchen bereits im Maschinenraum der Energiewende den Turbo einzubauen. Auf Bundesebene scheint es eher am Koalitionspartner zu hängen, ob das ein Erfolg wird. Und in den Ländern bremsen einige Ministerpräsident*innen. Doch genau die müssen sich nun auch daran messen lassen, nicht nur grün zu reden, sondern auch grün zu handeln. Es verwundert doch, dass gerade in Industrieländern wie NRW der Ausbau der Windenergie aufgrund absurder Abstandsregelungen zum Erliegen kommt. Wir erleben derzeit eine Ministerpräsidentenkonferenz nach der anderen, um einen Umgang mit der Covid-Krise zu finden. Es wird Zeit, dass die Kanzlerin auch die Klimakrise ähnlich ernst nimmt und die Bremser zur Räson ruft.
Dass mehr Energie benötigt wird, da sind Sie offenbar einer Meinung mit Michael Vassiliadis von der IGBCE. Kämpfen also künftig Gewerkschaften und Naturschutzverbände gemeinsam gegen den Klimawandel?
Zumindest kippt da gerade etwas. Vor ein paar Jahren haben wir als Umweltschützer*innen noch gegen eine große Lobby gekämpft. Mittlerweile sieht auch die Schwerindustrie, dass etwas passieren muss. Man muss es klar sagen: Wer den Ausbau Erneuerbarer Energien bremst, ist für die Deindustrialisierung Deutschlands verantwortlich. Insofern sehe ich tatsächlich große Potentiale, insbesondere mit Gewerkschaften gemeinsam an einem Strang zu ziehen.
Um es konkret zu machen: Der CO2-Preis auf EU-Ebene geht durch die Decke, wir sehen Energiekonzerne, die deutlich schneller abschalten wollen als geplant. Zumindest bei RWE ist schon angekommen, dass wohl der Kohleausstieg weit vor 2038 stattfinden wird, weil der Betrieb von Kohlekraftwerken nicht mehr lohnt.
Ich habe Angst vor dem Tag, an dem wir fossile Kraftwerke künstlich am Leben halten müssen, weil einzelne Ministerpräsident*innen den Ausbau von Wind und Sonnenenergie verhindert haben. Deswegen noch einmal: Wir müssen jetzt für den naturverträglichen Ausbau den Turbo-Boost-Button drücken. Und hier müssen wir dafür sorgen, dass auch in diesen Industrien künftig gute, tarifvertraglich abgesicherte Arbeit stattfindet. Green Jobs sind nur gute Jobs, wenn sie dafür sorgen, dass nicht nur die planetaren, sondern auch die sozialen Belastungsgrenzen eingehalten werden.
Zur Person: Dr. Kai Niebert ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings DNR und Nachhaltigkeitsforscher an der Uni in Zürich. Er ist Mitglied der SPD.
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