Meinung

Warum „Nie wieder“ auch für die Ukraine gelten muss

Olesya Yaremchuk ist ukrainische Journalistin. Angesichts der russischen Verbrechen in ihrem Land fordert sie, dass der Slogan „Nie wieder“ auch für die Ukraine gelten müsse.
von Olesya Yaremchuk · 2. Mai 2022
Eine ukrainische Frau trauert.
Eine ukrainische Frau trauert.

„Nie wieder" – es schien, als würde die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Fehler nicht wiederholen. Doch vor wenigen Tagen zeichnete in der Ukraine ein Satellit ein Massengrab im russisch besetzten Dorf Mangusch auf, weniger als 20 Kilometer von Mariupol entfernt. Dies ist ein mehr als 300 Meter langer Graben. Zum Vergleich: Die Massengräber in der Stadt Butcha bei Kyiv waren 14 Meter lang.

20.000 Tote in Mariupol

Laut Satellitenbildern tauchte der ausgehobene Graben hier nach dem 23. März auf. Nach dem 9. April wurde der Graben teilweise ausgehoben und erweitert. Es wird geschätzt, dass in Mariupol mehr als 20.000 Menschen starben.

Schon die Aufnahmen, die in der Stadt Butscha nach dem Abzug der russischen Truppen veröffentlicht wurden, waren erschütternd. Auf den Straßen lagen Leichen von Menschen mit gefesselten Händen, die von russischen Soldaten erschossen worden waren.

Ethnische Säuberungen in der Ukraine

Der Fotograf Mykhailo Palintschak veröffentlichte ein Foto, das einen Mann und mehrere tote nackte Frauen zeigt, die 20 Kilometer von Kyiv entfernt unter einer Decke am Straßenrand liegen. Die Russen haben sie zuerst vergewaltigt, getötet und dann versucht sie zu verbrennen. Diese Leute waren nicht beim Militär. Sie hatten keine Waffen. Sie stellten keine Bedrohung dar.

Am 4. April hat Russlands staatliches Medienunternehmen RIA Novosti einen Artikel veröffentlicht, in dem offen über ethnische Säuberungen in der Ukraine gesprochen wird. „Die weitere Entnazifizierung dieser Masse der Bevölkerung besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repressionen (Unterdrückung) nationalsozialistischer Einstellungen und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur auf politischem Gebiet, sondern zwangsläufig auch auf kulturellem und pädagogischem Gebiet“, heißt es im Artikel.

Der Author Tymofej Sergejtzew schreibt, dass „die Entnazifizierung zwangsläufig auch eine De-Ukrainisierung sein wird – eine Zurückweisung der von den sowjetischen Behörden begonnenen groß angelegten künstlichen Inflation der ethnischen Komponente der Selbstidentifikation der Bevölkerung der Gebiete des historischen Kleinrusslands und Neurusslands“.

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Ein paar dutzend Meter von meinem Haus in Lviv entfernt hängt ein Schild „Hier lebte Rafal Lemkin“. Er war ein Forscher und Rechtsanwalt jüdischer Abstammung, der einige Zeit in Lviv gelebt hat. Er ist der Autor des Begriffs „Völkermord“ oder „Genozid“ als Rechtsbegriff.

Seine Geschichte wurde von dem Schriftsteller und Anwalt Philip Sands in dem Buch „East-West Street“ ausführlich beschrieben. Ihm gelang die Flucht vor dem NS-Regime. Er floh zunächst nach Schweden und erhielt 1941 die Erlaubnis zur Einreise in die Vereinigten Staaten und die Erlaubnis, an der Universität zu lehren.

Täglich Vergewaltigungen

Er erforschte die Geschichte der armenischen Tragödie, die Verbrechen des stalinistischen kommunistischen Regimes an Ukrainer*innen und sammelte Beweise für Nazi-Kriegsverbrechen. In seinem 1944 veröffentlichten Werk „Axis Rule in Occupied Europe“ führte Lemkin den Begriff „Genozide“ ein, indem er das griechische „Genos“ (γένος) – „Volk“ und das lateinische „cīdere“ – „töten“ kombinierte.

Völkermord ist die vorsätzliche Handlung zur vollständigen oder teilweisen Vernichtung von Gruppen von Völkern oder Nationen aufgrund nationaler, ethnischer, rassischer, selbstsüchtiger oder religiöser Motive.

Fällt das, was jetzt in der Ukraine passiert, unter dieses Konzept? So ziemlich. Russen töten Menschen, nur weil sie Ukrainer*innen sind. Sie erschießen Menschen auf der Straße, ohne sich mit ihrer Identität zu befassen. Egal, ob sie Russisch sprechen oder nicht. Täglich werden Vergewaltigungen von Frauen gemeldet.

Nicht stillschweigend zustimmen

Wir wissen vom Völkermord an den Armenier*innen, wir wissen vom Massaker von Srebrenica, wir wissen, wie die Nazi-Deutschen das jüdische Volk zerstört haben. Dasselbe passiert gerade in der Ukraine. In Echtzeit, denn in vielen Städten sind noch immer russische Truppen präsent.

Wir können das doch nicht einfach beobachten und stillschweigend zustimmen.

Nie wieder.

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Autor*in
Olesya Yaremchuk ist ukrainische Journalistin und Schriftstellerin.
Olesya Yaremchuk

ist eine ukrainische Journalistin und Schriftstellerin.

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