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Lars Klingbeil: Warum eine neue deutsche Führungsrolle wichtig ist

Lars Klingbeil tritt für eine Führungsrolle Deutschlands in der Welt ein. Wie die aussehen sollte und warum sie andere Länder erwarten, erklärt der SPD-Vorsitzende im Interview.
von Kai Doering · 5. Juli 2022
SPD-Chef Lars Klingbeil: Viele Länder erwarten, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird und eine Führungsrolle übernimmt.
SPD-Chef Lars Klingbeil: Viele Länder erwarten, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird und eine Führungsrolle übernimmt.

Wie sehr hat sich Ihr Blick auf Russland in den vergangenen vier Monaten verändert?

Ich habe in der Vergangenheit auch zu jenen gehört, die für einen engen Austausch mit Russland geworben haben – weil ich davon überzeugt war, dass Putin daran interessiert ist, gemeinsam Lösungen zu finden. Das war ein Trugschluss. Wir stellen fest, dass Putin uns belogen hat. Er ist an einer Partnerschaft nicht interessiert, sondern wird als Kriegstreiber in die Geschichte eingehen. Das ist eine bittere Erkenntnis. Umso wichtiger war es, dass die Bundesregierung mit Olaf Scholz an der Spitze sehr schnell sehr weitreichende Entscheidungen getroffen hat, um auf den brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu reagieren. Russland hat sich isoliert. Wir stehen gemeinsam mit dem Westen eng an der Seite der Ukraine und stärken das Land so, dass es seine Freiheit verteidigen kann.

Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten die meisten, die Kriegsgefahr in Europa wäre gebannt und die Demokratie würde sich weltweit durchsetzen. Müssen wir uns jetzt auf einen neuen Kampf der Systeme einstellen?

Ich glaube nicht, dass es wieder eine Konfrontation zwischen zwei Blöcken geben wird. Aber der Krieg in der Ukraine macht uns auf brutale Weise klar, dass die Auseinandersetzungen härter werden. Dass mit Russland die elftgrößte Volkswirtschaft der Erde aus dem gemeinsamen Denken und Handeln ausgeschert ist, verändert die Welt. Dass eine Großmacht einen imperialistischen Angriffskrieg führt, hat es fast 80 Jahre nicht gegeben. Darauf müssen wir reagieren. Wir dürfen nicht naiv sein.

War die SPD in den vergangenen Jahren zu naiv? Schließlich prägt die Entspannungspolitik Willy Brandts bei vielen noch immer das Denken.

Die Ostpolitik von Willy Brandt ist eine historische Leistung. Durch seinen Mut und die weit vorausschauenden Entscheidungen, die er gegen großen Widerstand treffen musste, hat er die Grundlage dafür gelegt, dass der Ost-West-Gegensatz aufgelöst werden konnte. So ist die Wiedervereinigung überhaupt erst möglich geworden. Wir haben allerdings die Zeichen, dass Russland den gemeinsamen Weg verlässt, zu wenig beachtet: 2008 der Krieg in Georgien, 2014 die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, der Mord im Berliner Tiergarten und einiges mehr hätten uns stärker zu denken geben müssen.

Im SPD-Grundsatzprogramm steht der Satz: „Die strategische Partnerschaft mit Russland ist für Deutschland und die Europäische Union unverzichtbar.“ Muss er gestrichen werden?

Ich denke, da müssen wir unterscheiden. Klar ist: Das Russland unter Putin ist kein verlässlicher Akteur mehr und wird es auch nicht wieder sein können. Deshalb stimmt der Satz aus unserem Grundsatzprogramm aktuell nicht. Um die großen Herausforderungen – seien es der Kampf gegen den Klimawandel oder die Globalisierung – zu meistern, werden wir Russland irgendwann wieder brauchen. Aber mit Putin und seinem System sehe ich das nicht.

Sie haben angekündigt, die Grundsätze sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik neu bestimmen zu wollen. Eine wichtige Rolle soll dabei die Kommission Internationale Politik spielen. Woran denken Sie konkret?

Putins Krieg ändert viele Gewissheiten. Olaf Scholz spricht deshalb zu Recht von einer „Zeitenwende“. Das betrifft nicht nur das künftige Verhältnis zu Russland, sondern auch die Rolle der Europäischen Union. Ich bin fest davon überzeugt, dass es die Aufgabe meiner politischen Generation ist, Europa zu einem sehr selbstbewussten Akteur zu machen. Wir alle wussten, dass Europa wichtig ist, aber wir wussten nicht mehr, warum. Das hat sich durch den Krieg in der Ukraine schlagartig geändert. Wir brauchen Europa, wenn wir unsere Werte, aber auch unseren Wohlstand schützen wollen.

Ein zweiter Punkt ist die faire Gestaltung der Globalisierung. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gab es eine simple Zweiteilung: Die einen haben von billigen Importen profitiert, für die andere die Kosten tragen mussten. Das geht so nicht weiter. Auch mit Blick auf die Verletzlichkeit von Lieferketten, wie wir es während der Pandemie erleben mussten. Und ein dritter wichtiger Punkt ist ein neues Verhältnis zum Militär und vor allem zur Bundeswehr. Es ist richtig und notwendig, jetzt massiv in die Landes- und Bündnisverteidigung zu investieren. Deshalb bin ich auch froh, dass es uns gelungen ist, ein Sondervermögen für die Bundeswehr im Grundgesetz zu verankern. Deutschland muss jederzeit in der Lage sein, sich zu verteidigen.

Im Bundestagswahlkampf hatte die SPD mehr Geld für die Bundeswehr und die Einhaltung des Zwei-Prozent-Zieles der NATO noch abgelehnt. Ist dieser Kurswechsel schon bei allen in der SPD angekommen?

Das kann ich so nicht stehen lassen: Wir waren immer ein verlässlicher Partner für unsere Soldatinnen und Soldaten. Bis auf ganz wenige Gegenstimmen hat die Bundestagsfraktion das Sondervermögen für die Bundeswehr mitgetragen. Es geht dabei auch um die persönliche Ausstattung der Truppe, die wir als Parlament in lebensgefährliche Einsätze schicken. Diese breite Unterstützung für eine gut ausgestattete Bundeswehr nehme ich in der gesamten Partei wahr. Niemand in der SPD ist jetzt mit einem Mal ein großer Freund des Militarismus oder will die Bundeswehr leichtfertig in Einsätze schicken, aber wir wissen, dass eine Armee auch einsatzfähig sein muss, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. Eine ausgestreckte Hand, die sich für Frieden und Diplomatie einsetzt, muss stark sein. Das haben schon Willy Brandt und Helmut Schmidt erkannt. Eine gut finanzierte Bundeswehr ist eine wichtige Grundlage für eine gute Friedenspolitik.

Die Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee umgebaut worden. War das ein Fehler?

Die Landesverteidigung hat eine untergeordnete Rolle gespielt, weil wir angenommen haben, Deutschland sei umgeben von Freunden. Gleichzeitig haben die Auslandseinsätze nach dem Ende des Kalten Kriegs stark an Bedeutung gewonnen. Manch einer hat die Veränderungen aber überzogen. Ich erinnere mich etwa an Diskussionen, ob die Bundeswehr überhaupt noch Panzer braucht. Mir zeigt das, dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik eher Jahrzehnte in den Blick nehmen sollten und nicht kurzfristige Entwicklungen.

In der Bundestagsdebatte zum Sondervermögen haben Sie gesagt: „Deutschlands Rolle hat sich verändert.“ Inwiefern hat sie das?

Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland internationale Fragen mit sehr viel Demut und Zurückhaltung behandelt. Das war auch richtig so. Allerdings sind nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Wiedervereinigung die Erwartungen an Deutschland, sich international stärker zu engagieren, deutlich gestiegen. Auch wegen unserer wirtschaftlichen Stärke in Europa. Viele Länder erwarten, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird und eine Führungsrolle übernimmt. Ich finde, wir sollten klar und deutlich sagen, dass wir bereit sind für diese Führungsrolle, aktiv, aber nie überheblich. Gleichzeitig müssen wir immer wieder nach innen begründen, warum diese neue deutsche Führungsrolle wichtig ist. In einer hochglobalisierten Welt ist es auch für uns in Deutschland von großer Bedeutung, was auf der anderen Seite der Erde passiert. Durch eine kluge Außen- und Sicherheitspolitik können wir auch das Leben der Menschen in Deutschland besser gestalten.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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