Kursdebatte: Die SPD muss wieder Lust auf Zukunft machen
Thomas Koehler/photothek.net
Und täglich grüßt das Murmeltier. Meine SPD benötigt dafür nicht einmal eine Zeitschleife wie ihr Vorbild in der amerikanischen Filmkomödie. Sie wiederholt einfach so nach jeder verlorenen Wahl das gleiche Ritual: „Wir waren nicht links genug“, sagen die einen. „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“, die anderen. „Das Thema soziale Gerechtigkeit war richtig, aber die Leute trauen uns nicht mehr“, meinen einige. „Nur mit dem Thema soziale Gerechtigkeit kann man keine Wahlen gewinnen“, sagen andere.
Positionen verbinden
Manchmal geht es bei solchen Äußerungen auch darum, eine Position zu beziehen, die positioniert. Das gelingt, so ist es gelernt, leichter in Gegenüberstellungen. Aber wenn die SPD Volkspartei sein will, dann muss sie wieder lernen, Positionen zu verbinden. Wir brauchen die Kraft für ein „und“, wo den anderen ein „aber“ oder „oder“ reicht. So geht Volkspartei: als Bündnis. Selbstverständlich ist das Thema soziale Gerechtigkeit für die SPD immer richtig. Ohne soziale Gerechtigkeit kann man die SPD den Hasen füttern. Aber genau so stimmt: Wer soziale Gerechtigkeit durchsetzen will, benötigt Stimmen auch von denen, die hier für sich keine Priorität sehen. Nicht umsonst hat die SPD im Bund zuletzt Wahlen gewonnen, in denen „Innovation und Gerechtigkeit“ (1998) oder „Erneuerung und Zusammenhalt“ (2002) versprochen wurden (einmal unabhängig davon, was dann daraus gemacht wurde).
Als ich 2013 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, gehörte die Krim noch zur Ukraine, Trump war noch nicht Präsident der Vereinigten Staaten und Großbritannien hatte noch nicht den Austritt aus der EU beschlossen. Es ist ein Riesendurcheinander in der Welt. Wir haben darauf keine fertige Antwort. Schön wäre es, wir hätten eine. Willy Brandt hätte vielleicht eine? Es ist, wie es ist. Wir müssen nach Antworten suchen und gemeinsam mit anderen an Antworten arbeiten. Soziale Gerechtigkeit reicht als Antwort jedenfalls nicht aus.
Wir leben in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche größten Ausmaßes, schreibt der Soziologe Oskar Negt. Und das ist, was die Menschen spüren. Sie spüren Unterschiedliches, stören sich an Unterschiedlichem. Für die einen ist es die Erkenntnis, dass Grenzen nur begrenzt schützen können. Für die anderen die neue Normalität einer „Ehe für alle“. Wir sind geneigt, Kopf zuerst, zu solchen Einzelthemen zu argumentieren. Dabei geht es um die darunterliegende Bewegung, die wie eine sich verschiebende Erdplatte anscheinend von niemandem angehalten oder kontrolliert werden kann.
Der Optimismus fehlt
Vielen Menschen, das ist meine Analyse, ist im Moment einfach alles zu viel. Zu viel Veränderung. Alles dreht sich schneller, alles soll vereinbar sein, dauernd muss man Entscheidungen treffen wo früher alles geregelt war. Die Kinder sind noch nicht auf eigenen Füßen, die Eltern werden schon pflegebedürftig, die Lebensversicherung lohnt sich nicht mehr. Und das Häuschen im ländlichen Raum ist ein energetisches Problem, das niemand mehr wollen wird, wenn man im Alter in eine Wohnung in der Stadt ziehen wollte, die es dort leider auch gar nicht bezahlbar gibt. Das Durcheinander draußen in der Welt sitzt auch drinnen in den Herzen. Natürlich trägt man das nicht vor sich her: Uns geht es gut, sagen die meisten. Aber der Optimismus fehlt. Seit Jahren glaubt weit mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht mehr daran, dass es die Kinder einmal besser haben werden als die Elterngeneration. An den Reform-Begriff knüpft niemand Hoffnung. Eher die Frage, was sie kosten soll.
Für eine Partei, die einmal mit "Fortschritt nur mit uns" oder dem Slogan angetreten ist „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“, eine gefährliche Stimmungslage. Und so sind die Wahlergebnisse. Wer in einer solchen Lage (nur) mehr soziale Gerechtigkeit verspricht, sagt den Leuten, „wenn Euch schlecht geht, sind wir für Euch da“. Die Sehnsucht der Leute ist aber, dass es Ihnen erst gar nicht schlecht, sondern gut geht. Sie wollen ordentliche Jobs, kein Arbeitslosengeld Q, selbst wenn das ein sehr sinnvoller Vorschlag ist. Und so wählen sie Leute, die ihnen Sicherheit versprechen, wenn schon niemand Perspektiven bietet. Mit Heftpflastern kommt man dagegen nicht an. Schon gar nicht, wenn das Zutrauen fehlt, ob die Heftpflaster halten.
Gute Zukunft ist sichtbar
Die SPD muss wieder Lust auf Zukunft machen. Mitten im „Orientierungsnotstand“ (Oskar Negt) müssen wir nichts weniger als Orientierung schaffen. Mit Phantasie, Offenheit, Dialog. Wenn uns ein attraktiver Zukunftsentwurf gelingt, holen wir die sogenannte Mitte zu uns, so wie sozialdemokratische Reformvorstellungen auch früher Mehrheiten erreichen konnten.
Dieser Zukunftsentwurf gelingt nicht eben mal so. Wenn man überträgt, wie andernorts Innovationen entstehen, dann muss sich viel ändern in der Art, wie wir arbeiten. So lautet beispielsweise einer der ersten Lehrsätze des Design Thinking: "Get out of the house". Wir dagegen ersticken an internen Sitzungen, Gremien, treffen dauernd die gleichen Leute, eben noch im Vorstand, morgen wieder in der Arbeitsgruppe.
Wie wäre es mit Zukunftsscouts, die ausschwärmen ins Land auf der Suche nach den Orten, wo eine gute Zukunft schon heute sichtbar ist? Wiederholen wir den Social Hackathon, der im Frühjahr im Willy-Brandt-Haus stattgefunden hat, in jedem Bundesland! Deutschlands Gründerinnen und Gründer sind bereit, sich gesellschaftlich einzubringen, sie haben Energie, Visionen, Talente, die wir brauchen können und kaum abrufen. Wir dürfen nicht nur bei Konzepten stehen bleiben. Vertrauen geht auch verloren oder baut sich erst gar nicht auf, wenn immer nur Ankündigungen kommen und anschließend nichts passiert. Lust auf Zukunft entsteht, wenn Veränderungen spürbar werden. Am besten, wenn die Menschen selbst mitwirken können an diesen Veränderungen. Vor allem in Berlin entstehen immer weitere sogenannte Think Tanks. Was wir brauchen sind nicht nur Denkräume, sondern Werkstätten. Think-Do-Tank nennt man das in Amerika.
Gerechtigkeit ist immer das Ziel
Dabei ist Gerechtigkeit immer das Ziel. Thomas von Aquin hat gesagt: Macht hat den Sinn, Gerechtigkeit durchzusetzen. Er war wahrscheinlich kein Sozialdemokrat. Der Satz ist, was eher ungewöhnlich ist, dennoch richtig. Sozialdemokraten können diesen Satz unterschreiben. Sicherlich findet sich auch 1000 Jahre früher jemand, der Vergleichbares gesagt hat. Das Streben nach Gerechtigkeit gehört zum Menschen, wenn auch nicht zu allen. Die Gerechtigkeit zählt neben der Klugheit, der Tapferkeit, dem rechten Maß zu den Kardinaltugenden. Sie ist die einzige dieser Tugenden, die auf den Mitmenschen gerichtet ist. In diesem Sinne ist Gerechtigkeit immer soziale Gerechtigkeit - auch wenn viele sich selbst meinen, wenn sie soziale Gerechtigkeit einfordern.
Mit uns zieht die neue Zeit. Wie soll sie aussehen? Darüber sollten wir reden. Was können wir heute schon dafür tun? Das sollten wir machen. Ziehst Du mit?
Prof. Dr. Lars Castellucci ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages und Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion.