Konferenz zur Zukunft Europas: Wie sich Bürger*innen die EU wünschen
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In der vergangenen Woche ist nach einem Jahr die „Konferenz zur Zukunft Europas“ zu Ende gegangen. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Vor allem war und bin ich sehr beeindruckt von den Bürgerinnen und Bürgern, die sich über ein Jahr an der Konferenz beteiligt haben. Sie haben dem ganzen Vorhaben erst richtig Leben eingehaucht und Europapolitik aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet als wir das in Brüssel normalerweise machen. Bei jedem Treffen haben sie die gemeinsame Verantwortung ausgestrahlt, die sie für den Bereich hatten, in dem sie gearbeitet haben. Sie haben auch den Finger in die Wunde gelegt, etwa in der Frage Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Mein Fazit der Konferenz fällt insgesamt sehr positiv aus. Sie war ein innovatives Experiment und die Corona-Pandemie hat die Abläufe ja ziemlich durcheinandergebracht. Dass die Konferenz dennoch so stattfinden konnte, ist ein großer Erfolg. Aus meiner Sicht ist sie eine sehr gute Ergänzung zur repräsentativen Demokratie durch das Europaparlament.
Hatte die Corona-Pandemie auch Einfluss auf die Ergebnisse der Konferenz?
Zunächst mal hat die Pandemie den Zeitdruck erhöht, unter dem wir gearbeitet haben. Wir konnten ja erst deutlich später anfangen, was die ganzen Abläufe ziemlich zusammengeschoben hat. Die Treffen einiger Arbeitsgruppen mussten wegen hoher Inzidenzen auch abgesagt und zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Aber natürlich sind die Erfahrungen der Pandemie und zuletzt auch des Kriegs in der Ukraine auch inhaltlich in die Debatten der Arbeitsgruppen eingeflossen. Gerade die Gruppe, die zur Gesundheitspolitik gearbeitet hat, hat das sicher in ihrer Einstellung bestärkt, dass die EU mehr Kompetenzen braucht, beispielsweise in der Pandemiebekämpfung. Grundsätzlich muss sie schneller zu Entscheidungen kommen können, Stichwort Einstimmigkeitsprinzip.
Insgesamt haben die Teilnehmer*innen der Konferenz 325 Maßnahmen erarbeitet. Vieles davon Forderungen, die die europäische Sozialdemokratie schon länger formuliert. Wie bewerten Sie das?
Die Bürgerinnen und Bürger sind sehr stark von ihren täglichen Erfahrungen ausgegangen. Ihr Blick war also kein institutioneller. Sie wollten Veränderungsvorschläge machen, die auch positive Auswirkungen auf das Leben der Menschen in der EU haben. Die europäischen Sozialdemokraten haben ja einen ganz ähnlichen Ansatz, gerade in sozialen Fragen. Insofern wundert es mich nicht, dass es da viele Übereinstimmungen zwischen unseren Vorstellungen und den Vorschlägen der Bürgerinnen und Bürger gibt. Diese zeigen aber auch, dass die Menschen in vielen Bereichen viel weiter sind als ihre Regierungen.
Für die Umsetzung vieler Vorschläge müssten die Europäischen Verträge geändert werden. Halten Sie das zurzeit für realistisch?
Ich halte das nicht nur für realistisch, sondern für essenziell. Wir wissen ja schon länger, dass wir mit den Regeln, die wir bisher haben, nicht mehr weiterkommen, etwa wenn wir uns die Rechtsstaatlichkeit ansehen. Es ist brandgefährlich für die Europäische Union, wenn wir die Werte, die wir nach innen und nach außen vertreten, selbst nicht mehr einhalten. Die Reformfähigkeit ist eine Überlebensfrage für die EU. Die Vorschläge, die bei der Konferenz zur Zukunft Europas gemacht wurden, können uns helfen, die Europäische Union wieder besser aufzustellen und ihr Regelwerk an die aktuellen Herausforderungen anzupassen.
Am 9. Mai wird der Abschlussbericht an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und den Vorsitzenden des Europäischen Rates Emmanuel Macron übergeben. Was muss danach passieren?
Der Bericht und die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht in der Schublade verschwinden. Das Europäische Parlament hat deshalb bereits mit großer Mehrheit eine Resolution beschlossen, mit der wir einen Verfassungskonvent fordern. In den kommenden Wochen wird der Verfassungsausschuss des Parlaments eine Liste erarbeiten, welche der Vorschläge wir befürworten und umgesetzt sehen wollen. Im Juni wird es einen Europäischen Rat geben. Eine ganze Reihe von Regierungen hat sich bereits offen gezeigt für eine Änderung der EU-Verträge. Insofern könnte das bereits im Juni ein Thema werden. Die Debatte dürfte spannend werden.
Sie machen den Teilnehmer*innen der Konferenz also durchaus Hoffnung, dass ihre Vorschläge umgesetzt werden?
Ich finde, die Vorschläge sind sehr konkret und in vielen Bereichen treffend. Gleichzeitig möchte ich nicht zu hohe Erwartungen wecken. Die Verträge können und sollten geändert werden, aber eine Debatte darüber, was wir uns darüber hinaus jetzt noch alles wünschen könnten, fände ich falsch. Im Mittelpunkt sollten immer die Bürgervorschläge stehen, verbunden mit der Frage: Wie schaffen wir es, dass Europa noch besser wird?
Wird es eine Fortsetzung der Konferenz geben?
Ich fände auf jeden Fall ein Folgetreffen nach einem Jahr gut, bei dem wir Politiker*innen den Bürger*innen berichten, was wir unternommen haben und was aus ihren Vorschlägen geworden ist. Als EU-Parlament haben wir uns vorgenommen, genauso ernsthaft mit den Vorschlägen umzugehen wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Zukunftskonferenz an die Themen herangegangen sind.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.