Klingbeil-Rede: Wie die neue deutsche Führungsrolle diskutiert wird
Rund eine halbe Stunde sprach der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil über seine Perspektive einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik, erklärt seine Sicht der Dinge auf eine Welt, die sich im Wandel befindet. In einer Zeitenwende. Gleichzeitig gestand er bei der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin ein: Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt er nicht. Stattdessen forderte er eine Debatte über die Rolle des Militärs in der Gesellschaft, der Bundesrepublik in der Welt und Erwartungen an Deutschland angesichts einer Krisen-Epoche von Krieg bis Klima.
Und die Debatte wurde (und wird) geführt: Stiftungs-Vorsitzender Martin Schulz hatte namhafte Expert*innen aus Wissenschaft und Politik eingeladen, die dem SPD-Chef widersprachen, neue Fragen aufwarfen, aber auch die nach vorne gerichtete Rede lobten und ergänzten.
Klingbeil füllt eine Scholz-Leerstelle
Da war beispielsweise Nathalie Tocci aus Italien, die Klingbeil in dem Gedanken bestärkte, dass Sozialdemokrat*innen militärische Unterstützung als Teil der Diplomatie akzeptieren müssten. Oder dass Handel und wirtschaftliche Abhängigkeiten nicht automatisch zu einer friedlicheren Welt führten. „Das war eine wunderbare Welt, als wir das noch dachten, aber es ist einfach nicht so.“ Abhängigkeiten, die Staaten wie Russland oder China missbrauchten, warnte die Wissenschaftlerin und Beraterin für internationale Politik.
Gleich mehrere Expert*innen griffen die Gedanken auf, die sich Klingbeil zur Zeitenwende gemacht hatte: Jana Puglierin sprach davon, dass die Rede des Parteivorsitzenden eine Leerstelle nach Scholz' Rede Ende Februar gefüllt habe: „Die Friedrich-Ebert-Stiftung und Lars Klingbeil haben sich an die Spitze einer Bewegung gesetzt diese Zeitenwende-Rede weiterzudenken, auszuformulieren“, lobte sie. Bisher habe ihr der Input, das „Weiterdenken“ in der Politik gefehlt, kritisierte die Außenpolitik-Expertin.
Offener Austausch statt fertiges Konzept
Dass Klingbeil noch keine vollständige, neue sozialdemokratische Außenpolitik ausformuliert hatte, ja, Widerspruch eingefordert hatte, wurde wohlwollend aufgenommen. So forderte Puglierin eine neue Ostpolitik mit Blick auf die Bedrohung durch Russland. Auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, Entwicklugnsministerin Svenja Schulze sowie EU-Kommissionsvize Frans Timmermanns ergänzten Punkte, erinnerten an Probleme bei den Verteidigungsausgaben, den klimaneutralen Umbau des Kontinents, Kooperationen auf Augenhöhe mit den Ländern des globalen Südens.
Dass Deutschland international eine Führungsmacht werden solle, war dabei einer der Kernaussagen Klingbeils, die besonders intensiv debattiert wurde. „Ich glaube, dass das europäische Umfeld das schon lange von uns erwartet“, ist unter anderem Puglierin überzeugt. Auch Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, unterstützt dieses Ziel – mit Blick auf die Erwartungshaltung anderer Staaten in der EU.
„Das Alte ist nicht mehr da, das Neue hat noch nicht begonnen“, hatte Klingbeil mit Verweis auf den Philosophen Antonio Gramsci die aktuelle Krisensituation in der Welt beschrieben. „Es stimmt“, so Sicherheitsexpertin Claudia Major, „und wir wissen noch nicht was kommt“. Ein paar Ideen gebe es schon, aber eine kooperative Friedensordnung mit Russland gehöre nicht dazu. „Das ist vorbei“, so Major, „nicht weil wir das wollen, sondern weil Russland sich aus dem gemeinsamen Konzert verabschiedet hat.“ Die neue Ordnung werde von Konflikten geprägt sein, ist sie überzeugt.
„Wir dürfen nicht das Vertrauen verlieren.“
Einer der mit Blick auf die Zeitenwende trotzdem noch Optimismus verbreiten konnte, war Frans Timmermanns: Alle Krisen zusammen seien eine riesige Herausforderung, so der Europapolitiker. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, das ist meine größte Sorge“, sagte er, ergänzte aber: „Das Schöne ist: Es ist alles möglich. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir dürfen nur nicht das Vertrauen verlieren.“ Für die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft müssten alle mitgenommen werden, niemand dürfe auf der Strecke bleiben.
Die SPD dürfte Timmermanns dabei an seiner Seite wissen – Klingbeil hatte die Transformation als „das Zukunftsthema“ bezeichnet, das mit der Zeitenwende eine neue Dringlichkeit erfahren habe. Investitionen in Erneuerbare Energien seien letztlich Investitionen in die eigene Unabhängigkeit, so Klingbeil, „und damit Investitionen in unsere Sicherheit“.
Die Rede von Lars Klingbeil im Wortlaut lesen Sie hier.