Klimaneutrales Deutschland 2050: „ambitioniert, aber erreichbar“
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Bis 2050 will Deutschland treibhausgasneutral werden. Was bedeutet das für unser Wirtschaftssystem?
Das Ziel ist ambitioniert, aber erreichbar. Das klare Bekenntnis zur Treibhausgasneutralität vereinfacht auch einiges, denn nun sind Szenarien vom Tisch, in denen bestimmte Sektoren gar nicht dekarbonisiert werden. Wir müssen nun also auf die direkte Elektrifizierung setzen und auf die Nutzung von Wasserstoff und klimaneutraler synthetischer Energieträger. Die Frage, ob wir grünen Wasserstoff für die Energiewende tatsächlich in großen Mengen brauchen, war lange nicht geklärt. Mit der Entscheidung für ein klimaneutrales Wirtschaften kommen wir darum nun definitiv nicht herum.
Auf dem sogenannten grünen Wasserstoff ruhen große Hoffnungen, etwa in der Stahlproduktion. Welche Weichen müssen gestellt werden, damit er als Energieträger zuverlässig genutzt werden kann?
Die Voraussetzungen sind in Deutschland eigentlich gut. Die Expertise und das Potenzial für die Entwicklung der klimaneutralen Wertschöpfungsketten sind vielerorts vorhanden. Das gilt für die Industrie wie auch für den Mobilitätsbereich. Die Entscheidung für die Klimaneutralität bedeutet allerdings, dass es zu einer sehr umfassenden Transformation der gesamten Industrie kommen wird. Knapp 30 Jahre sind für diesen Umbau keine lange Zeit. Ob wir das Ziel der Klimaneutralität 2050 erreichen können, wird sich in den kommenden zehn Jahren entscheiden.
Deutschland deckt rund 70 Prozent seines Energieaufkommens durch Importe verschiedener Energieträger. Wird diese Abhängigkeit durch die verstärkte Nutzung von Wasserstoff verringert?
Nein. Deutschland wird immer einen großen Anteil seiner Primärenergie importieren müssen. Zurzeit sind das in erster Linie fossile Energieträger wie Öl, Kohle und Gas. Künftig werden es klimaneutrale Energieträger wie etwa grüner Wasserstoff oder seine Folgeprodukte sein. Allerdings erlaubt der Umstieg auf grünen Wasserstoff und andere klimaneutrale Energieträger eine Diversifizierung der Abhängigkeiten. Dadurch geraten Regionen als Energiehandelspartner in den Blick, die bisher keine Rolle gespielt haben. Das sind Regionen, die zwar keine Öl- oder Gasvorkommen haben, wohl aber hohes Potential bei den erneuerbaren Energien.
Eine Kontroverse gibt es zurzeit über die Frage, ob der Import von Gas den Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland verlangsamt. Wie sehen Sie das?
Wir müssen die Erneuerbaren konsequent ausbauen, weit stärker als im EEG 2021 vorgesehen. Das wird aufgrund von Flächenrestriktionen und Akzeptanzproblemen nicht einfach werden. Der Stromverbrauch wird aber bis 2030 nochmal deutlich ansteigen durch Wachstumstrends in der Elektromobilität, im Wärmemarkt und in der Industrie sowie durch den Markthochlauf von grünem Wasserstoff.
Wird Erdgas – gerade vor dem Hintergrund des beschlossenen Kohleausstiegs – überhaupt noch als Brückentechnologie benötigt oder ist das überflüssig, weil bis 2038 die Erneuerbaren Energie so weit ausgebaut sind, dass sie den Energiebedarf decken können?
Brückentechnologien wird es sicher geben müssen. Wir können nicht Kernkraft und Kohle abschalten und gleichzeitig auch noch aufs Erdgas verzichten. Aber wir können die Abhängigkeit von fossilem Gas schneller verringern, wenn wir zügig den Import klimaneutraler Energieträger vorbereiten. Bis wir große Mengen grünen Wasserstoffs importieren können dauert es noch. Im Übergang kann zum Beispiel blauer Wasserstoff eine Rolle spielen. Er wird zwar aus fossilem Gas gewonnen, aber das entstandene CO2 wird aufgefangen und gespeichert. Über bestehende Pipelines können immer auch verschiedene klimaneutrale Energieträger transportiert werden. Unabhängig vom Transformationspfad muss der Wasserstoff im Jahr 2050 aber grün sein.
Seit dem 1. Januar gibt es eine CO2-Abgabe in Deutschland. Energie aus fossilen Trägern wie Benzin wird damit teurer. Ist eine solche Abgabe der richtige Weg, um Menschen zu klimaverträglicherem Verhalten zu bewegen?
Eine CO2-Bepreisung ist ein wichtiger Baustein und muss zum Leitinstrument der Energie- und Klimapolitik werden. Appelle verpuffen sehr häufig, auch weil der Einzelne oft gar nicht abschätzen kann, welche Auswirkungen sein Verhalten auf das Klima hat. Perspektivisch soll ja sektorübergreifend ein Handel mit CO2-Zertifikaten eingeführt werden. Über eine Verschärfung der Mengenziele von Jahr zu Jahr und den Handel der Emissionszertifikate können die Emissionen verlässlich reduziert werden. Der Preis bestimmt dann, wo die Emissionen eingespart werden. Es werden diejenigen Emissionen vermeiden, für die es am einfachsten ist. Die Entscheidung jedes Einzelnen trägt damit dazu bei, dass das Gesamtziel erreicht wird. Es ist aber auch klar, dass ein CO2-Preis die Belastungen der Haushalte und auch der Unternehmen erhöht. Deshalb müssen gleichzeitig zwingend die Abgaben und Umlagen bei der Energiebepreisung reformiert werden.
Woran denken Sie dabei?
Es gibt sehr viele Abgaben und Umlagen, die Strom verteuern. Sie kommen oft aus einer Zeit, in der Stromverbrauch noch per se umweltschädlich war. Dies verhindert nun, dass man den zunehmend erneuerbaren Strom nutzt, um die Sektoren Mobilität und Wärme sowie die Industrie zu dekarbonisieren. Strom sollte also billig sein, CO2-Emissionen dagegen teuer. Daher sollte im Gegenzug zur Einführung der CO2-Bepreisung die EEG-Umlage wegfallen und die Stromsteuer auf ein Minimum reduziert werden. So würden einkommensschwache Haushalte unterm Strich sogar entlastet. Finanzierungslücken einer solchen Reform könnten durch den Wegfall direkter und indirekter Subventionen fossiler Energieträger gedeckt werden. Da müsste man allerdings politisch sehr konsequent agieren.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.