Meinung

Grundwerte und Ukraine-Krieg: Ohne Verhandlungen geht es nicht

Wie kann der Krieg in der Ukraine beendet werden? Entscheidend wird sein, Verhandlungen nicht per se als illusorisch abzutun, sondern jede realistische Gelegenheit zu ergreifen.
von Michael Bröning · 17. Februar 2023
Auto-Wrack aus dem ukrainischen Irpin: Es geht darum, einen Krieg mit tagtäglich unzähligen Opfern möglichst rasch und zu einem akzeptablen Preis zu beenden.
Auto-Wrack aus dem ukrainischen Irpin: Es geht darum, einen Krieg mit tagtäglich unzähligen Opfern möglichst rasch und zu einem akzeptablen Preis zu beenden.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine geht ins zweite Jahr und noch immer ist kein Ende in Sicht. Die Auswirkungen aber bleiben katastrophal, insbesondere für die Menschen in der Ukraine aber auch für die Weltgemeinschaft insgesamt. 

Auf den ersten Blick, so scheint es, ist die Botschaft gerade sozialdemokratischer Grundwerte in Bezug auf den Krieg eindeutig:

Ja, in der Ukraine wird der Grundwert der Freiheit gegen russische Aggression verteidigt. Ja, Prinzipien der Gerechtigkeit lassen sich nicht ohne weiteres von den völkerrechtlich verbindlichen Grenzen des angegriffenen Staats trennen. Und ja, der Grundwert der Solidarität erfordert nicht nur humanitäre Hilfe, sondern auch militärische Unterstützung. 

Der Blick muss über die Ukraine hinausgehen

Vor diesem Hintergrund haben die Sozialdemokratie und der Bundeskanzler nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Ukraine unseren Beistand verdient und dass der Schlüssel zum Frieden letztlich dort liegt, wo die Entscheidung für den Krieg gefallen ist: in Moskau.

Doch zugleich ist auch richtig: Sozialdemokratische Prinzipien verweisen in zweiter Ordnung auf eine weitergehende Verantwortung, die den Blick über die aktuellen Kriegsentwicklungen hinaus auf die Zukunft richtet – und zu Besonnenheit mahnt. 

Verantwortungsbewusste Politik muss gezielt über die Bereitstellung militärischer Fähigkeiten hinausgehen und mehr umfassen als die Bereitschaft, sich von russischen Eskalationen keinesfalls erschüttern zu lassen.

Es klingt banal aber ist es nicht: Die Umsetzung von Grundwerten ist weder in einer Welt möglich, in der Recht lediglich die Fähigkeiten des Stärkeren umschreibt, noch auf einem nuklear verwüsteten Planeten.

Ohne Frieden ist alles nichts

Diese Selbstverständlichkeit auszusprechen, bedeutet kein Einknicken vor der Aggression und schon gar kein stillschweigendes Belohnen des Aggressors. Es übersetzt vielmehr die Einsicht Willy Brandts: „Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“. Eine breite Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit auch jenseits der Sozialdemokratie teilt diese Einschätzung.

Verantwortungsvolle Politik versucht deshalb nicht, die gerechtfertigte Sorge vor einer auf Dauer als alternativlos erklärten rein militärischen Logik zu delegitimieren. Im Gegenteil: Sie nimmt diese Sorge ernst und beantwortet sie politisch – nicht lediglich, wie derzeit in weiten Teilen des medialen Spektrums zu beobachten, im schrillen Ton der Moral.

Die Ukraine hat ein Anrecht auf Solidarität. Doch auch diese Solidarität ist nicht nur partikular. Sie ist bezogen auf die mittel- bis langfristig absehbaren Folgen auch universalistisch zu denken.

Davon abzuleiten ist aber eben nicht nur das Eintreten für Waffenlieferungen, sondern auch die Zurkenntnisnahme der globalen Konsequenzen, die ein Weiter-so und das Ausbleiben diplomatischer Initiativen nicht zuletzt für benachteiligte Menschen weltweit mit sich bringt.

Andere Herausforderungen nicht aus dem Blick verlieren

Die Fülle der globalen Herausforderungen – von anhaltender Armut und Unterentwicklung bis zum Klimawandel und zu Fluchtbewegungen – lässt sich kaum bearbeiten, solange politisches und konkret materielles Kapital in einen nicht absehbaren Konflikt geleitet wird und globale Zusammenarbeit in immer weitere Ferne rückt.

Darauf zu verweisen ist kein zynisches Aufrechnen, sondern Wahrnehmung der Realität. Schließlich begründet nicht zuletzt diese Tatsache die in Teilen deutlich abweichenden Perspektiven in Ländern des globalen Südens auf den Krieg und darauf, wie er zu beenden ist.

All dies rechtfertigt sicher nicht die Einstellung militärischer Unterstützung und schon gar keinen Berliner Handschlag über Ost-Mitteleuropa in Richtung Moskau. Die Ukraine liegt in Europa und nicht in einem kaukasischen Kreidekreis.

Doch abgeleitet werden kann und muss hieraus die Einsicht, dass die Unterstützung mit der Verantwortung einhergeht, unkalkulierbare Eskalationen zu vermeiden. Die Waffenlieferungen bedingen auch eine politische Verantwortung für den Fortgang des Krieges – wie Jürgen Habermas jetzt völlig zu Recht angemerkt hat. Das Auslagern dieser Debatte an die Ukraine entlastet uns nicht vor einer eigenen Abwägung über Grenzen der eigenen Rolle und Ziele.

Es gibt keine unbegrenzte Eskalationsbereitschaft

In dieser Abwägung aber ist es weder „Eskalationsphobie“ noch „Unterwerfungspazifismus“ zu betonen, dass politische Verantwortung mehr umfasst als ein rigoroses Beharren auf dem Prinzip „Es herrsche Gerechtigkeit, und gehe auch die Welt zugrunde“, der Wahlspruch Kaiser Ferdinand I.

Ja, die Frage der Gerechtigkeit ist zentral. Doch wahr ist auch: Ab einem gewissen Punkt setzt die Höhe des Preises dem Sieg der Gerechtigkeit faktisch nicht zu leugnende Grenzen. Dies einzugestehen ist strategisch naiv? Im Gegenteil: Der Topos der unbegrenzten Eskalationsbereitschaft ist es, der ab einem gewissen Punkt eine ganz eigene Konfliktdynamik auslöst.

Gerade in der deutschen medialen Debatte erscheint hier vieles zu rigoros. Tatsächlich nämlich eignet sich der Krieg weder als Gelegenheit für moralische Selbstvergewisserung, noch als ein spieltheoretisches Experiment, in dem die Rücksichtslosigkeit der anderen Seite versuchshalber ausgetestet wird. Das Risiko einer nuklearen Antwort mag in Moskau gezielt geschürt werden – eine weitere atemberaubende  Gewissenlosigkeit. Doch gezieltes Leugnen jedes Risikos oder ein fatalistisch wiederaufgelegtes „lieber tot als rot!“ ist die falsche Antwort.

Zumal unklar bleibt, woher gerade die Stimmen, die im russischen Präsidenten einen von Vernichtungswillen durchtränkten Völkermörder erkennen, die Zuversicht nehmen, derselbe Präsident werde vor einer nuklearen Eskalation in letzter Konsequenz schon zurückschrecken.

Die Weltuntergangsuhr steht auf kurz vor Mitternacht

Die Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists (BAS) erstellt seit Jahrzehnten eine Weltuntergangsuhr. Aktuell steht sie auf 90 Sekunden vor Mitternacht und damit so nah an einer atomaren Katastrophe wie nie zuvor. Das Inkaufnehmen der Katastrophe aber war noch nie eine sonderlich rationale Katastrophenvermeidungsstrategie.

Gerade progressive Kräfte haben dies stets begriffen. Das überlegte Agieren des Bundeskanzlers, für das er in manchen Kreisen so gescholten wird, steht deswegen in einer guten Tradition. Die Alternative wäre ein Wettbewerb um das verantwortungsloseste Ausblenden der Konsequenzen in einem so globalen wie gefährlichen Game of Chicken.

Die Stimmen aber, die die Unkalkulierbarkeit der Risiken nun so unbeeindruckt ausblenden oder gleich als Geschäftsbesorgung des Kremls verdammen, müssen sich fragen lassen, an welchem Punkt einer möglichen Eskalation ihr Ausstieg zu erwarten ist. Oder gibt es einen solchen für sie schlicht nirgendwo auf der Spirale in Richtung Abgrund?

Wieviel Ungerechtigkeit nehmen wir in Kauf?

Nein. Aus einer Perspektive der Verantwortung wäre es vor dem Hintergrund der Risiken falsch, einzelne Grundprinzipien so absolut zu setzen, dass Kompromisslösungen kategorisch ausgeschlossen werden und nicht nur sozialdemokratische Grundwerte insgesamt ad absurdum geführt werden.

Insbesondere bezogen auf die Frage der Gerechtigkeit ist deshalb auch zu fragen, wie ein gerechter Frieden aussieht und wie gerecht ein anhaltender Krieg und seine Konsequenzen in der Wirkung ausfallen. In dieser Diskussion aber dürften westliche Staaten letztlich kaum um die Frage herumkommen, wieviel partielle oder zumindest temporäre  Ungerechtigkeit in Kauf zu nehmen ist, um der universellen Ungerechtigkeit einer militärischen Totaleskalation zu begegnen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist diese Frage kaum zu beantworten. Und sie ist verständlicherweise eines der großen Tabus der aktuellen Debatte. Doch sie nicht zu beantworten ist etwas anderes, als sie gar nicht erst zuzulassen.

Ziel der wertebasierten Unterstützung für die Ukraine ist kein Triumph über das „tyrannische Prinzip“ („Der Spiegel“), kein progressiver Exorzismus des vom russischen Präsidenten zur Schau gestellten Chauvinismus und nicht einmal die vom ukrainischen Präsidenten so regelmäßig beschworene „Glorie“ der Ukraine – so begrüßenswert all diese Dinge auch sein mögen.

Kriegsziel muss ein rasches Kriegsende sein

Ziel ist die Unterstützung eines europäischen Nachbarn gegen einen grausamen und völkerrechtswidrigen Angriff, eine möglichst enge Wieder-Annäherung an den Status quo ante und eine möglichst umfassende Verteidigung der grundlegendsten Regeln des Völkerrechts.

Getragen wird diese Unterstützung von der Hoffnung, dass die Ukraine aus einer Position der Stärke heraus in Verhandlungen eintreten kann. Denn eine Lösung auf dem Verhandlungsweg scheint auf absehbare Zeit die einzig denkbare.

Ein Eintreten für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heißt, Verhandlungen nicht per se als illusorisch abzutun, sondern jede realistische Gelegenheit zu Verhandlungen zu ergreifen und zu suchen, um die Fortsetzung und Eskalation dieser globalen Katastrophe zu verhindern. Dabei sollte immer im Blick bleiben: Es geht darum, einen Krieg mit tagtäglich unzähligen Opfern möglichst rasch und zu einem akzeptablen Preis zu beenden. Ein entscheidendes Kriegsziel ist und bleibt deshalb ein möglichst rasches Kriegsende.

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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