Vor 60 Jahren

Godesberger Programm: Als die SPD regierungsfähig wurde

Klaus Wettig15. November 2019
Auf dem Godesberger Parteitag 1959 ging es kontrovers zu. Am Ende veraschiedeten die Delegierten mit großer Mehrheit ein neues Grundsatzprogramm. Es sollte der Grundstein für den Aufstieg der SPD werden.

Nach der verlorenen Bundestagswahl 1957 ging es schnell mit der Neuaufstellung der SPD. Obwohl die Partei einen Zuwachs von 3,0 Prozentpunkten erreichen konnte, empfand sie das Wahlergebnis als demütigende Niederlage, denn die Konkurrentin CDU/CSU erzielte mit 50,2 Prozent ein überwältigendes Resultat. Unter der Führung von Konrad Adenauer hatte sie politisch und im Wahlkampf alles richtig gemacht, jedenfalls sah dies die Wählerschaft so.

Die SPD hingegen schien alles falsch gemacht zu haben: inhaltlich-programmatisch, personell und wahlkampf-taktisch. Jedenfalls kamen zahlreiche Wahlanalysen zu diesem Urteil, und wichtige SPD-Politiker außerhalb der engeren Parteiführung übernahmen diese Wertungen.

SPD-Erneuerung mit neuem Grundsatzprogramm

Der Vorstoß der Reformer führte zu deutlichen Veränderungen an der Spitze der SPD-Bundestagsfraktion, denen auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 weitere Korrekturen folgten. Die Parteileitung wurde gründlich verändert, auch die Zusammensetzung des Parteitages und der bisherige Parteiausschuss in einen einflussreicheren Parteirat umgewandelt.

Nachdem schon 1954 eine 50-köpfige Kommission mit der Beratung eines Parteiprogramms begonnen hatte, sollte die Erneuerung der SPD mit einem neuen Grundsatzprogramm abgerundet werden. Offiziell galt bis dahin immer noch das Heidelberger Programm von 1925.

Kurt Schumacher, der Vorsitzende der 1946 wiedergegründeten SPD, hatte zunächst die Richtung vorgegeben, dass in einer Übergangszeit ein neues Programm sinnlos sei. Ein gutes Jahrzehnt danach sollte es nicht bei Schumachers Diktum bleiben. Zu unklar wurde die SPD mit dem überholten Heidelberger Programm empfunden, zu viele Angriffsflächen bot deswegen die Partei.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Orientierung

Eine weitere Festlegung befolgte der Programmentwurf jedoch ausdrücklich. Der Entwurf verzichtete auf eine marxistische Gesellschaftsanalyse. Die SPD der Zukunft sollte offen sein für unterschiedliche theoretische Begründungen. Allein an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sollte sich sozialdemokratische Politik orientieren.

Das Bekenntnis zu einem linken Reformismus, der auf die Unterfütterung durch die marxistische Theorie verzichtete, war ein klarer Sieg des sogenannten Revisionismus, der beginnend mit Eduard Bernsteins Kritik an der Parteilinie vor 1914 zwar stets an Einfluss gewonnen hatte, doch die Parteiprogramme fielen anders aus. Neben die geduldete Mitarbeit der Marxisten trat mit dem Godesberger Programm deutliche Ableitung aus der Ethik Kants und den Vorstellungen der Religiösen Sozialisten.

Keine Mehrheit für Marx

Obwohl das Programm in seinen Entwurfsfassungen jahrelang diskutiert worden war, löste die Ansetzung eines außerordentlichen Parteitages für das Jahresende noch einmal heftige Diskussionen aus. Sie bestritt vor allem der Kommissionssekretär Willi Eichler, ein Repräsentant des ethischen Sozialismus, den in der Weimarer Republik der Göttinger Philosoph Leonard Nelson entwickelt hatte.

Es überrascht, dass die theoretischen Grundlagen für das neue Programm zwar ausführlich diskutiert wurden, doch die Vorlagen für eine marxistische Orientierung fanden keine Mehrheit. Die meisten Kapitel erhielten nur wenige Gegenstimmen. In der Schlussabstimmung gab es 16 Gegenstimmen.

Die 23 Gegenstimmen zum Kapitel „Landesverteidigung“ transportierten noch einmal Vorbehalte gegen die erfolgte Wiederbewaffnung. Auch das Kapitel „Religion und Kirche“ lief nicht glatt durch den Parteitag. Mit diesem Kapitel, das den Friedensschluss mit der katholischen Kirche einläuten sollte, verbanden sich große Erwartungen der Parteiführung, die in den kommenden Jahrzehnten in Grenzen bestätigt wurden. Jedenfalls unterblieben bei der Bundestagswahl 1965 die Wahlaufrufe der Bischöfe zugunsten der CDU/CSU.

Absage an Vergesellschaftung überzeugt nicht alle

Die höchste Zahl von 42 Gegenstimmen erhielt das Kapitel „Eigentum und Macht“. Die klare Absage an eine Vergesellschaftungspolitik ohne zwingende Gründe überzeugte nicht jeden Delegierten, obwohl das Programm staatliche Eingriffe nicht ausschließt. Jedenfalls kann die Godesberger Grundentscheidung für die Marktwirtschaft nicht als Begründung für die spätere bedenkenlose Privatisierungspolitik von Sozialdemokraten in den Ländern und den Kommunen herangezogen werden.

Öffentliches Eigentum an Unternehmen der Daseinsvorsorge war nach dem Godesberger Programm selbstverständlich in einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung. Auf Vorbehalte stieß auch die Kompromiss-Formel: Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig. Tatsächlich erweiterte die regierende SPD die Planungskompetenzen des Staates erheblich.

Voraussetzung für den Aufstieg der SPD

Aus der Distanz von Jahrzehnten betrachtet, bildete das Godesberger Programm eine zentrale Voraussetzung für den Aufstieg der SPD in den 1960er Jahren. Es warf Ballast ab und räumte Missverständnisse beiseite. In seinen Einzelforderungen war es erstaunlich präzise, sodass eine Bilanz 60 Jahre nach Godesberg festhalten kann: Die SPD hat erstaunlich viel durchgesetzt.

Zwei Vorwürfe seiner Kritiker bestätigten sich jedoch auch: Der wirtschaftliche Optimismus war übertrieben und das Programm ist einseitig auf die parlamentarische Politik ausgerichtet. Es vernachlässigt die notwendige gesellschaftliche Unterstützung für jede Reformpolitik.

Als die Delegierten am späten Nachmittag des 15. November abreisten – der Parteitag endete um 16.30 Uhr, konnten sie den Eindruck mitnehmen, demnächst werden wir eine Bundestagswahl gewinnen. Der nächste Schritt erfolgte dann 1960 in Hannover mit der Wahl Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten.

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Kommentare

"Die SPD hat erstaunlich viel durchgesetzt".

Das Godesberger Programm hat unsere Partei zur politischen Mitte hin geöffnet, für breite Bevölkerungsschichten wählbar gemacht und uns an die Macht gebracht. Die gewonnene Macht hat unsere Partei als "Partei der Bildung" (Wilhelm Liebknecht) gut genutzt und u. a. Kindern aus der Unterschicht wie mich den Weg aus der Armut und zu Bildung und Ausbildung, Wohlstand und sozialer Sicherheit geebnet. 60 Jahre nach Verabschiedung des Godesberger Programmes ist es jedoch höchste Zeit für eine Anpassung und Modernisierung des Programmes ohne dessen Kernelemente aufzugeben. Nach der Niederlage unserer Partei bei der BTW 2017 muß sie ebenso wie nach der BTW 1957 zurück in die politische Mitte und ihr diffus gewordenes Erscheiniungsbild und ihre Programmatik schärfen. Weiterhin gilt: Nur in der politischen Mitte werden Wahlen und die Macht zur Veränderung gewonnen.

Groko ohne Zukunft !

Die Wahrheit ist: Die Groko-SPD mit dem schwarze Null-Verfechter Vizekanzler Olaf Scholz erfüllt im Dauerclinch mit dem konservativen rückwärtsgewandten Koalitionspartner allenfalls das Pflichtprogramm eines ambitionslosen Koalitionsvertrages der rein gar nichts Zukunftsweisendes zu bieten hat. Selbstgesteckte Ziele (s, Klimaschutz) werden mit weitem Abstand zur Zielsetzung verfehlt ! Der Mindestlohn über 12 EUR bleibt mangels Durchsetzungskraft v. Olaf Scholz und Genosse Heil ein Phantom obwohl er viele Probleme zumindest mildern könnte. Die großen Reformen bei Steuer, Rente Gesundheit bleiben aus. Keinerlei Zukunftskonzept erkennbar. Vieles muss von Gerichten geregelt werden, weil die Groko-Politik hinter den Erfordernissen zurückbleibt. Wahrscheinl. ist auch, dass Gerichte manches der Groko-SPD wieder einkassieren (siehe Solibeibehaltung f. Besserverdiener) weil die Groko-SPD es ni. mit einer besser.,sauberen, rechtlich eindeut. Lösung hinbringt. Die schwarze Null muss als Grund herh., dass viele Notstände von Pflege, Bildung, Wohn., Klima bis zu einer sich weit. spaltenden Gesellsch. ungelöst bleiben !
Unsere SPD braucht ein neues klares Programm u. Führung Ri. Zukunft !

Vieles muss von Gerichten geregelt werden?

Sie übertreiben wie immer maßlos, was ist denn "vieles" das von den Gerichten geregelt werden muß? Richtig ist, dass es der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung so gut geht wie noch nie in diesem Lande, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Wäre Ihre Beschreibung der Verhältnisse auch nur annähernd richtig, müßten die Menschen - wie aus der DDR - in Massen aus diesem Lande flüchten, tatsächlich ist es umgekehrt. Schreiber wie Sie lassen die SPD als Haufen ewig nörgelnder inkompetenter Linker erscheinen, die selbst mit zwei linken Händen ausgestattet immer nur den Staat für die eigene Daseinsvorsorge in der Pflicht sehen. Tatsählich hat die GroKo eine Menge geschafft und die SPD hat ganz wesentlich Anteil daran daß es der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung so gut geht wie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes.

Erneuern

Alle, der JUSO Vorsitzende inklusive, die heute die SPD "#erneuern", sprich in die linke Ecke, treiben wollen, sollten 1 Woche "Godesberg und die Folgen für die SPD und für unser Land" als Pflichtprogramm verordnet bekommen. Dies wäre der erste Schritt zur Genesung.

Godesberg

Nicht der Verzicht auf die marxistische Gesellschaftsanalyse oder des Zieles der Errichtung der Diktatur des Proletariats mache die SPD damals regierungsfähig (im Bund, denn in den Ländern regierte sie ja schon) sondern die Anerkennung der Wiederbewaffnung, der Westintegration und zur NATO. Kurzum, die Anerkennung der Oberherrschaft Washingtons. Genau diese Punkte hat man Ende der der 1990er Jahren den grünlichen abgerungen und genau bei diesen Punkten hapert es heute noch bei den Linken.

die Anerkennung der Oberherrschaft Washingtons?

Diese Mär von der "die Anerkennung der Oberherrschaft Washingtons" als einzige Voraussetzung für die Erlangung der Regierungsfähigkeit der SPD erzählen mit Ihnen die Real- und Nationalsozialisten von DIE LINKE und der AfD gerne uninformierten Wählern. Es hat in der Außenpolitik immer eine enge Abstimmung der Bundesrepublik mit den verbündeten USA, die unsere Sicherheit gewährleisten, gegeben. Es hat aber immer auch die Freiheit für uns gegeben "NEIN" zu sagen, wenn wir etwas nicht mitmachen konnten, siehe Einmarsch in den Irak. Der WP ist da ganz anders verfahren, siehe Tschechoslowakei 1968.