Gleichstellung: Warum es um viel mehr als um Mann und Frau geht
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Eine Stunde diskutierten am Samstag die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, Kanzlerkandidat Olaf Scholz sowie Schriftstellerin Jagoda Marinic und Sprachwissenschaftlerin Reyhan Sahin über Gleichstellung, Quoten und Gerechtigkeit. Eine Stunde, in der einerseits Gleichstellung und Gleichberechtigung bis hin zur globalen Ebene gedacht wurde, und in der andererseits die Frage nach Respekt und Wertschätzung auf eine Antwort runtergebrochen werden konnte: „Das bedeutet für mich soziale Gerechtigkeit.“
Nicht nur Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau
Der Satz war das Schlusswort der Rapperin und Sprachwissenschaftlerin Reyhan Sahin, auch bekannt als „Lady Bitch Ray“. Sie weitete auch gleichzeitig die Debatte anlässlich des Frauentags, um darauf hinzuweisen, dass es im Sinne eines modernen Feminismus nicht nur um Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau gehen dürfe. Die Künstlerin betonte deutlich, dass Gleichberechtigung für alle Menschen gelten müsse, nicht-binäre, Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe, mit Migrationsbiographien, aus unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft – kurz: für alle. „Wir können in 2021 nicht über Feminismus sprechen und den Rassismus außen vor lassen.“
Auch Erfolge der SPD-Politik der vergangenen Jahre will Sahin dabei kritisch hinterfragt sehen – auch von den Sozialdemokrat*innen selbst. Frauenquoten in Vorständen würden beispielsweise auch nur einen Teil dieser Menschen erreichen, aus Sahins Sicht profitierten davon überwiegend weiße Frauen aus der Mittelschicht, wärend viele andere weiterhin außen vor blieben. Und nicht zuletzt müssten auch Sozialdemokrat*innen Rassismus aus der Vergangenheit und patriarchale Strukturen in der eigenen Partei reflektieren und aufarbeiten, forderte sie.
Olaf Scholz: Reflektiert und um Vertrauen bemüht
„Die Frage des Rassismus ist zentral“, erwiderte auf diese Kritik denn auch Olaf Scholz. „Deswegen reden wir über Respekt, Anerkennung und über Würde.“ Er würde sich selbst auch als modernen Feministen bezeichnen, so der Kanzlerkandidat. Nach der Kritik von Sahin ergänzte Scholz mit Blick auf seine eigene politische Laufbahn: „Ich bin mir darüber im klaren: Es hat dazu beigetragen, dass ich ein Mann bin, dass ich mich durchsetzen konnte.“ Gleichzeitig verwies er aber darauf, dass er schon seit vielen Jahrzehnten für Gleichberechtigung gekämpft habe. Als Beispiele nannte er frühere Debatten und Diskussionen in seiner Zeit als Hamburgs Erster Bürgermeister.
Diese selbstkritische Reflexion zog sich durch die Debatte, bei der auch Jagoda Marinic den Finger in die Wunde legte: „Man muss sich fragen, warum steht Deutschland jetzt, nach 20 Jahren Gleichstellungspolitik, im Vergleich immer noch als Schlusslicht da?“ Und das, obwohl die Bundesrepublik seit vielen Jahren von einer Frau regiert werde, obwohl die SPD seit vielen Jahren im Bund mitregiert. Allerdings – darauf wies Scholz im Gegenzug hin – eben nicht als größte Partei. Mit Blick in die Zukunft sagte der derzeitige Vizekanzler: „Wir wollen bei diesen Themen nicht immer wieder an konservativen Widerständen scheitern.“
Er warb um Vertrauen, dass unter einer SPD-geführten Regierung diese Themen zentral bearbeitet werden – so wie er andere Themen in der Vergangenheit auch in Angriff genommen habe. Auch hier verwies Scholz auf seine Zeit als Hamburger Rathaus-Chef, der die Wohnungsnot in der Hansestadt schon vor Jahrzehnten in Angriff genommen hatte und dessen Erfolge sichtbar seien – anhand hundertausender Baugenehmigungen für Mehrfamilienhäuser.
Gemeinsam kämpfen, sich nicht spalten lassen
Gerade mit Blick auf die Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, in sozialen Medien, appellierte die Parteivorsitzende Saskia Esken in der Diskuission an den Zusammenhalt all jener, die von Diskriminierungen betroffen sind: „Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass unterschiedlichen Diskriminierungen gegeneinander ausgespielt werden.“ Stattdessen: „Wir müssen uns zusammentun!“ Dazu gehöre es auch, scheinbare Widersprüche untereinander aufzulösen und gleichzeitig Diskriminierung sichtbar zu machen und schlussendlich zu überwinden. Vernetzen, so Esken, den eigenen Rücken dabei gerade machen, „das ist ganz wichtig“.
Wie schwierig das allerdings ist, darauf wies die Schriftstellerin Jagoda Marinic hin. Denn die Rethorik habe sich bereits entwickelt, während an den richtigen Stellschrauben noch nicht gedreht worden sei. Dazu müssten auch eigene Privilegien hinterfragt werden. „Wir müssen über Unsichtbarkeit sprechen“, so Marinic, die einzelne Punkte nannte, die in der Debatte um Gleichberechtigung ihrer Ansicht nach fehlten – angefangen bei der doppelten Staatsbürgerschaft, die sie als einen Grund nannte, warum viele Menschen in Deutschland nicht mitbestimmen, nicht wählen dürften. Marinics Wunsch an die Sozialdemokratie: Rechtsansprüche gegen Diskriminierung, Wohnraumverhältnisse, demokratische Teilhabe, Bildungsgerechtigkeit – all diese großen Fragen sollte die SPD miteinander verknüpfen und zeigen, warum diese Fragen alle Menschen betreffen.
Die Debatte geht weiter
Große Fragen, große Themen, die an einem Frauentag nicht geklärt und schon gar nicht gelöst werden können. Das wurde auch am Ende der Veranstaltung wieder einmal klar. Deswegen sprach Scholz direkt die Einladung sowohl an Marinic als auch Sahin aus, die Gespräche fortzuführen. Nicht, ohne dabei noch einmal auf das Zukunftsprogramm der SPD zu verweisen, in dem viele wichtige Stellschrauben bereits genannt würden. „Die stehen da nicht zufällig drin“, so der Anwärter auf das Kanzleramt. Respekt, Anerkennung und Gleichstellung seien die großen Aufgaben des Jahrzehnts. „Wir müssen es schaffen, die Gesellschaft zusammenzuführen.“
Die komplette Veranstaltung zum Frauentag bei Youtube: