Inland

Gegen Antisemitismus und Rassismus: Warum Politikunterricht nicht reicht

Die SPD-Ageordnete Elisabeth Kaiser fordert mehr Prävention im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Das Ziel: Mehr politische Bildung im Alltag. Denn eine Unterrichtsstunde Politik pro Woche reicht einfach nicht, erklärt sie im Interview.
von Vera Rosigkeit · 9. November 2020

Was war der Anlass über den Wert der politischen Bildung neu nachzudenken?

Immer wieder reden wir über Hass und Hetze im Netz, überlegen, wie wir dagegen vorgehen können und denken Strafverschärfungen an. Doch über Prävention wird wenig nachgedacht. Wie können wir Bürger*innen darin bestärken, sich mehr in die Politik einzubringen, sie zu wahrhaften Demokrat*innen machen? Auch in meinem Wahlkreis merke ich, dass Vorurteile vorherrschen und Menschen empfänglich sind für Populismus bis hin zu Verschwörungsmythen. Eine Unterrichtsstunde Politik pro Woche in der Schule reicht da einfach nicht. Die Frage lautet, wie wir politische Bildung mehr ins Leben integrieren können, nicht nur in der Schule auch in den Berufsalltag und die Senior*innenarbeit. Um möglichst viele Perspektiven und Expertise in das Positionspapier „Demokratie braucht mehr politische Bildung“ einfließen zu lassen, habe ich eine breite Beteiligung der Fachkolleginnen und -Kollegen hinzugezogen. Besonders Karamba Diaby, Susann Rüthrich, Daniela Kolbe und Stefan Schwartze haben sich intensiv an der Erarbeitung beteiligt.

Einmal die Woche Politikunterricht reicht nicht

Es beginnt mit der Demokratiebildung in der Kita. Wie kann man sich das vorstellen?

Während eines Praktikums in einer Kita in Großbritannien habe ich z. B. erlebt, dass Kinder aufgefordert wurden, sich selbst eine Aufgabe zu suchen, mit der sie sich beschäftigen wollen. Es wurde also nicht für sie entschieden, sondern sie konnten selbst entscheiden, was sie tun wollten. Welche Gruppenbeschäftigung am Nachmittag war abhängig von der Mehrheitsmeinung der Kinder. All das ist schon ein demokratischer Prozess, der natürlich pädagogisch begleitet wird. Es gibt durchaus bereits in der Kita Möglichkeiten, die Selbstwerdung von Kindern zu stützen und kleine Menschen darin zu bestärken, eigene Entscheidungen zu treffen, die sich gut anfühlen.

Setzt das bei der Ausbildung der Erzieher*innen an?

Es braucht methodische und didaktische Qualifizierung. Und die muss schon in der pädagogischen Ausbildung verankert und in der weiteren beruflichen Laufbahn fortgesetzt werden.

Schauen wir auf die Schulen. Da heißt es, dass das Fach politische Bildung alleine für die Demokratiebildung nicht ausreicht, richtig?

Zum einen braucht es eine Aufwertung des Unterrichtsfaches. Viel zu oft, sind zu wenige Stunden für den politische Bildung vorgesehen oder fallen oft als erste dem Lehrkräftemangel zum Opfer. Zudem muss Demokratiebildung fächerübergreifend sein und sollte sich nicht nur auf den Politikunterricht reduzieren. Das meine ich nicht nur mit Blick auf den Unterrichtsinhalt, sondern auch mit Blick auf Lehrkräfte. Wir wissen ja alle, dass Björn Höcke Lehrer ist. Um so wichtiger ist es, die Demokratiebildung auch bei Lehrkräften frühzeitig zu unterstützen und sie zu qualifizieren. Die Grundsätze der Demokratie sollten in allen Unterrichtsfächern vermittelt werden, ganz gleich ob in Mathe oder in Kunst. Es gibt immer Situationen, in denen man mit politischen Ereignissen konfrontiert ist, die auch in der Schule thematisiert und gemeinsam pädagogisch aufgearbeitet werden sollten. Nehmen wir als Beispiel die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD in Thüringen im Februar dieses Jahres oder noch aktueller, die islamistisch motivierten Attentate in Frankreich oder Wien. Hier sollten z. B. auch die Klassenlehrer*innen in der Lage sein, mit den Schüler*innen zu diskutieren und nicht warten, bis irgendwann der Politikunterricht darauf eingeht.

Mehr BAföG für politische Engagement

Wäre da nicht auch Unterstützung von Trägern der außerschulischen Bildung nützlich?

Natürlich. Das muss nicht allein von Leher*innen geleistet werden. Ich halte es sogar für essenziell, dass zivilgesellschaftliche Akteure in enger Zusammenarbeit mit den Schulen den Unterricht ergänzen, ähnlich einem Modell der Schulsozialarbeit und regelmäßig in die Schulen kommen. Es gibt sehr viele Träger, die dieses Knowhow haben. Die Bundeszentrale für politische Bildung könnte das gut koordinieren.

Wie sieht es an der Uni aus. Eine Mathemathikstudierende kommt doch nur mit Politik in Berührung, wenn sie oder er selbst in der Hochschulpolitik aktiv ist?

Wir wissen, dass vor allem praxisorientierte Studiengänge an Fachhochschulen oder dualen Hochschulen durch ihre engen Stundenpläne kaum Raum für hochschulpolitische Engagement lassen. Man kann auch nicht erwarten, dass alle Studierende Interesse an einem solchen ehrenamtlichen Engagement haben. Umso wichtiger wäre die Einführung eines Basismoduls, dass man beispielsweise im ersten Semester absolviert haben muss und vielleicht im dritten oder sechsten Semester nochmal reaktiviert bzw. fortgesetzt wird.

BAföG-Empfänger*innen sollen ein Semester länger gefördert werden, wenn sie sich politisch engagieren?

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es tatsächlich an Zeit fehlt, wenn man sich engagiert. Entweder geschieht alles nur noch unter Druck oder man muss eben über die Regelstudienzeit hinaus länger studieren. Bei BAföG-Empfänger*innen führt das schnell dazu, dass sie das Engagement aufgeben, auch weil sie oft noch nebenbei arbeiten gehen müssen. Eine Verlängerung des Anspruchs auf BAföG wäre also die Möglichkeit, etwas von dem Druck rauszunehmen.

Wahlalter von 18 auf 16 Jahren senken

Wie lassen sich Senior*innen erreichen?

Das ist schon schwieriger. Denn nicht alle sind aktiv. Aber wenn sie sich in ihrer Freizeit im Verein engagieren oder an der Volkshochschule an Kursen teilnehmen, ließe sich über diesen Weg auch erreichen, sie für ein Angebot der politischen Bildung zu interessieren. Letztlich geht es darum, Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, die keine Bevormundung beinhalten.

Wie passt das geplante Absenken des Wahlalters von 18 auf 16 Jahren in dieses Vorhaben?

Politische Bildung funktioniert am besten durch eigenes Erfahren, durch Teilhabe und Engagement. So lässt sich Selbstwirksamkeit erleben. Wir verlangen von jungen Menschen so viel. Sie können schon eine Ausbildung machen, bekommen vielleicht schon ein Gehalt und wohnen möglicherweise nicht mehr bei ihren Eltern. Ich finde, das Recht zu wählen sollten wir den jungen Menschen im Alter von 16 Jahren geben. Wenn wir erwarten, dass sie dann reif genug sind, in bestimmten Lebensbereichen Verantwortung übernehmen können, dann sollten wir den jungen Menschen auch zutrauen, eine eigenständige Wahlentscheidung treffen zu können.

Wir leben gerade in einer Zeit, wo soziale Kontakte zurückgefahren werden. Welche Auswirkungen hat das auf den Bereich der politischen Bildung?

Die Bundeszentrale für politische Bildung aber auch zahlreiche Träger sind zur Zeit sehr damit befasst, neue Formate zu entwickeln, um die Menschen digital zu erreichen. Wir müssen leider festelllen, wie gerade in dieser zeit Verschwörungsmythen zu Corona durch das Netz zirkulieren. Ihre Verbreiter nutzen aus, dass viele Menschen ihre Freizeitgestaltung derzeit online ausüben und sich im Netz auch informieren. Deshalb müssen wir die Träger- und Trägerinnen der politischen Bildung in ihrer Online-Kommunikation viel stärker unterstützen, sowohl finanziell aber eben auch mit Knowhow. Das lernen wir gerade aus der Corona-Krise.

Was ist Populismus, was ein politischer Dialog?

Wie steht es um das Thema Hass und Hetze im Netz?

Das ist ein Riesenthema. Der Ton im Netz ist ja teilweise so verroht, dass er sich auf die Straße überträgt. Deshalb ist die kritische Medienbildung auch so wichtig. Damit ich unterscheiden lerne, was Populismus ist und was ein politischer Dialog. Schwierig dabei ist, dass diejenigen, die aggressiv agieren, oftmals gar nicht empfänglich sind für einen sachlichen Dialog. Umso wichtiger ist es, dass ich diejenigen befähige, die das versuchen. Gut wäre es, wenn es auch im Arbeitsleben und in den Betrieben eine Art Demokratiebeauftragten gebe als Anlaufstelle, wenn man mit solchen Dingen konfrontiert ist. Denn wenn ich im realen Leben damit umgehen kann, kann ich es auch besser im Netz.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Legislaturperiode ist nicht mehr lang und die Union blockiert jetzt neben einigen anderen Gesetzen auch das Demokratiefördergesetz. Das Programm „Demokratie leben“ soll zwar ausgebaut werden, das ist aber kein Demokratiefördergesetz. Dementsprechend  bereiten wir uns auf den Wahlkampf vor und wollen unsere Ideen zur Stärkung politischer Bildung und Demokratieförderung im Regierungsprogramm verankern. Zudem kommt durch die verstärkte Debatte um Rassismus und Antisemitismus in Behörden der politischen Bildung wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Um hier sprachfähig zu sein, ist es gut, dieses Papier zu haben, wo im Übrigen verschiedene Träger draufgeschaut haben, auch die Bundeszentrale für politische Bildung. Darauf wollen wir aufbauen.

Autor*in
Avatar
Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare