Franz Müntefering: Warum Aussöhnung so wichtig für Europa ist
IMAGO/Christian Ohde
Ich war fünf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Meine Mutter und ich wohnten in einer kleinen Wohnung in Sundern im Sauerland. Meinen Vater hatte ich bis dahin nur einmal – kurz auf Fronturlaub – erlebt, er kam Mitte 1946 aus britischer Gefangenschaft zurück, aus Bengasi.
Ob wir am historischen 08./09. Mai 1945 schon vom Kriegssende wussten? Ich weiß es nicht. Es gab weder Zeitung noch Radio bei uns.
Als „der verdammte Krieg“ vorbei war
„Der verdammte Krieg“ sagten sie nun alle, das fiel auf. Und keine deutschen Soldaten mehr, die mit erhobenen Händen aus dem Wald kamen, hinter sich deutsche Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag. Täglich zu Hause und in der Schule, auch im Kindergarten: Keine Munition anfassen. Lebensgefahr!
Einige Zeit später – es wird Sommer gewesen sein – aufgeregte Erwachsende, die darüber sprachen, dass es also doch „die große Bombe“ gibt, die Hunderttausend tötet. Wie in Japan. Hatte uns derlei auch gedroht; akuter: Droht es noch?
Wir hatten schlimmen Hunger. Und im Winter kein Holz für den Herd. Briefträger brachten Gefallenenbescheide oder Nachrichten aus der Gefangenschaft. Wir hatten Glück. Frau Schmitt nebenan nicht, sie weinte tagelang, eigentlich dauernd.
Bloß keine Lebensmittelkarten verlieren!
Nach meiner Einschulung am 01. April 1946 lernte ich Quäker-Speise schätzen, die gab es alle paar Tage: Grießsuppe mit Rosinen oder Bouillon mit weißen Brötchen. Lebensmittelkarten, die uns – zu kleine – Rationen Brot, Zucker und Margarine sicherten, waren das wichtigste Papierstück in der Tischschublade. Bloß nicht verlieren! Bis 1950!
Quäker*innen waren nicht katholisch, teilte man uns mit, aber wir fanden sie doch prima. Das galt auch für die paar Dutzend evangelischen Kinder in unserem Ort, die mit ihren geflüchteten Eltern aus dem Osten gekommen waren. Die Leitkultur im nordrhein-westfälischen Sauerland sorgte dafür, dass sie nicht in unserer katholischen Schule gehen durften. Mit den Jungs spielten wir aber nachmittags Fußball. Die evangelischen Mädchen waren ausgesprochen nett, aber eben evangelisch. Es hatte auch Juden gegeben in unserem Ort, ja, erfuhr man irgendwann knapp, eher zufällig. In ihren damaligen Wohnungen wohnten jetzt Christen. Mehr wusste niemand dazu. Die noch nicht so gewaltige Eiche auf dem zentralen Platz hieß „im Volksmund“ Hitler-Eiche; sie war 1933 gepflanzt worden.
„Nie wieder deutsche Stiefel im Ausland.“
Als ich meinen Vater fragte – ich nehme an 1953 zur zweiten Bundestagswahl –, auf was man bei der Politik achten muss, war er ernst und gab ohne weitere Erklärung zwei Empfehlungen: 1. Geh nie in eine politische Partei. 2. Nie wieder deutsche Stiefel im Ausland. Das mit der Partei wusste ich irgendwann besser. Das mit den Stiefeln hörte sich zunächst gut an, erwies sich aber mit der Zeit als egoistischer Kern, der von Mitverantwortung außerhalb des eigenen Landes befreite.
„Es ist schlimm, was alles in der Welt passiert, aber da müssen wir uns als Deutsche raushalten. Jedes Land muss mit sich selbst klarkommen. Deutschland hat genug angerichtet in der Welt“, so das Denken meines Vaters.
Für ein relativ reiches Land mit einer solchen jüngeren Vergangenheit ein bequemes Plätzchen. Als ich bei der Sozialdemokratie ankam, hatte ich das hinter mir. Besserwissen, rechtfertigt nicht, das kann nur Bessermachen.
2022 von der Realität eingeholt
Mit dem Ende der in Ost und West geteilten Welt und des Kalten Krieges Anfang/Mitte der 1990er-Jahre schien eine friedliche Zeit gekommen, in der alle Staaten selbstverantwortlich und auch mitverantwortlich fürs Ganze sich hinter der Formel des Artikels 1 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 versammeln konnten, einig und in Frieden: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollten einander in Brüderlichkeit begegnen.“
2022 sind wir in der Realität weit davon entfernt. Aber diese Aussage muss der Kern unseres Handelns bleiben: die Gleichwertigkeit aller Menschen.
Für meine Generation war es nicht einfach, sich als Deutscher zu erkennen und gerne Deutscher zu sein: Zweimal Kriegsantreiber, Kriegsverbrecher, Judenhasser, Massenmörder. Diese deutsche Demokratie, die seit 1949 besteht und mit dem Fall der Mauer 1989 fortgeschrieben wurde, scheint zu gelingen. Das war auch deshalb möglich, weil bald nach 1945 manche aus Europa und der Welt, die – gelinde ausgedrückt – unter uns gelitten hatten, uns ihre Hand reichten.
Sich in Europa in Freundschaft begegnen
Europa war unser-e Vaterland-schaft. Eine große Idee. Eine reale Chance. Und jetzt müssen wir mitten im Gezerre, in Mord und Totschlag, und Lüge und Hass hartnäckig versuchen, die Katastrophe auszubremsen und Schritt für Schritt dazu beitragen, dass alle, alle in Europa sich (wieder) in Freundschaft begegnen. Auch Russ*innen und Ukrainer*innen ohne Arg und ohne Angst. Es klingt wie eine Utopie. In Wahrheit ist es die eine große Chance.
Lasst uns daran arbeiten. Jede und jeder an ihrem/seinem Platz. Damit die 2020-Geborenen ein Jahrhundert in Frieden und ohne Krieg erleben können. Und so auch die Kraft haben, weltweit, unseren Planeten Erde als Wohnstatt der Menschheit zu retten.
„Politisches Handeln zu sittlichen Zwecken“, so nannte derlei der deutsche Soldat und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt.