Frankfurter Buchmesse: Martin Schulz über die Macht der Literatur
Wenn einer um die Macht des geschriebenen Wortes weiß, dann ist es Martin Schulz: Ohne Abitur verließ er 1974 das Gymnasium, aus der angestrebten Fußballerkarriere wurde aufgrund einer Verletzung nichts. Was folgte, waren dunkle Jahre – aber auch die Ausbildung zum Buchhändler: 1982 gründete Schulz seine eigene Buchhandlung im nordrhein-westfälischen Würselen.
Heute ist Schulz Präsident des Europaparlaments, lesen tut er aber immer noch gerne: „Meine Eltern haben mich von Kindheit an das Lesen und die Liebe zu Büchern gelehrt. Diese Leidenschaft ist bis heute geblieben. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht wenigstens ein paar Seiten lese“, sagte Schulz in einer Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am 18. Oktober. Bücher, so Schulz, hätten „buchstäblich mein Leben gerettet und mir Wege aufgezeigt, als ich als junger Mann zwischenzeitlich die Orientierung verlor und keine persönliche oder berufliche Zukunft für mich sah.“
Realität gewordene Utopie
Bücher waren es auch, durch die sich Schulz die europäische Kultur und Vielfalt erschloss: „Ja, ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dass ich vor allem aus Büchern lernte, was unsere europäische Kultur ausmacht und wie viele Einflüsse aus anderen Regionen dabei prägend waren.“ So habe er die „Schönheit der Toleranz“ durch Gotthold Ephraim Lessings „Ringparabel“ gelernt, die Dramatik des Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit von Charles Dickens und die „Würde des Menschen in totalitären Zeiten“ von Herta Müller.
Europa und die Europäische Integration seien „nichts weniger als eine Realität gewordene Utopie. Eine Utopie, wie sie Thomas Morus entworfen hat oder wie sie der Reisende Gulliver in dem Roman von Jonathan Swift erlebt, wenn er bei seiner letzten Reise die Gesellschaft der Pferdewesen kennenlernt.“ Trotzdem sei Europa für viele heute nicht mehr eine Verheißung für die Zukunft: Die Populisten gewinnen zunehmend Wahlen, der Nationalismus erlebt ein Comeback. Für Schulz steht fest, dass die Herausforderungen und Probleme des 21. Jahrhunderts – Digitalisierung, Klima, humanitäre Katastrophen – nicht im Rahmen einzelner Nationalstaaten gelöst werden können. Trotzdem, so Schulz, „wird mit dem widerbelebten Nationalismus ein Topos aus der Mottenkiste hervorgeholt, der eigentlich eine alt-bekannte Erzählung ist. Sie erzählt das Märchen von der Rückkehr in den guten alten Nationalstaat, als könnte man um einzelne Länder einfach einen Zaun wie um einen Schrebergarten ziehen und dann ungestört von der wilden Globalisierung in Ruhe seine Rosen schneiden.“
„Aufstand der Anständigen“
Schulz rief dazu auf, den Populisten „laut und deutlich“ zu widersprechen und einen „Aufstand der Anständigen“ anzuzetteln. Das europäische Gesellschaftsmodell müsse gegen die „Feinde der Freiheit“ verteidigt werden. Denn für Schulz ist die europäische Einigung nicht nur ein Geschenk, sie ist ein Wunder: „Als Europäer haben wir uns gegenseitig geschworen, es in diesem Jahrhundert besser zu machen, als zu Beginn des letzten. Jetzt ist dafür unsere Bewährungsprobe. Jetzt beginnt die Zukunft, in der wir hoffentlich noch viele neue und schöne Kapitel ins Buch der europäischen Geschichte schreiben.“