Flüchtlingspolitik: „Die EU hat seit 2013 nichts gelernt.“
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Durch die Coronakrise ist die Situation der Geflüchteten in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich in den Hintergrund getreten. Welchen Einfluss hat Corona auf die aktuelle Lage in Griechenland?
Wir alle sollten derzeit unsere persönlichen Kontakte minimieren und Abstand zu unseren Mitmenschen zu halten. In den restlos überfüllten Hotspots auf den griechischen Inseln, in denen Tausende Menschen auf engstem Raum leben, ist räumliche Trennung jedoch schlichtweg nicht möglich. Ein Ausbruch von COVID-19 in einem der Hotspots oder der Umgebung hätte katastrophale Auswirkungen auf die Gesundheit tausender Menschen. Die Lager müssen deshalb unverzüglich evakuiert werden, angefangen mit besonders gefährdeten Menschen, wie Älteren oder Menschen mit Atemwegserkrankungen. Anstatt die Bemühungen zur Umsiedlung nun aufgrund der Gesundheitslage zu verringern oder gar auszusetzen, ist es jetzt umso dringender, die Menschen nicht alleine zu lassen und die Gefahr eines Ausbruchs zu minimieren. Es gibt zahlreiche Städte und Gemeinden in Deutschland, aber auch in der EU, die ihre Hilfe angeboten haben. Auf diese Angebote müssen wir jetzt unbürokratisch eingehen.
Anfang März hat der türkische Präsident Erdogan die Grenze seines Landes für Geflüchtete geöffnet. Ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei damit gescheitert?
Das Flüchtlingsabkommen war schon vorher nicht voll funktionsfähig. Zum einen steht die Umsiedlung nur Flüchtlingen aus Syrien offen. Zum anderen hat auch der vereinbarte Mechanismus nicht funktioniert, dass Griechenland Flüchtlinge, die irregulär über die Türkei einreisen, wieder dorthin zurückschickt, und die Mitgliedstaaten im Gegenzug geordnet syrische Flüchtlinge aus türkischen Lagern aufnehmen.
Seit Beginn des Abkommens zahlt die EU Geld an die Türkei, damit diese die Geflüchteten bei sich im Land versorgt. Funktioniert das?
Über Sinn und Unsinn dieser Maßnahme kann man sich streiten. Wichtig ist jedoch hervorzuheben, dass das Geld nicht direkt in den türkischen Haushalt fließt, sondern bei Fertigstellung der Projekte an Hilfsorganisationen gezahlt wird. Ich persönlich wünsche mir dennoch mehr Kontrolle, wofür genau das Geld ausgegeben wird. Die EU muss wissen, bei welchen Flüchtlingen das Geld ankommt.
In der vergangenen Woche haben sich Erdogan, Kommissionpräsidentin von der Leyen und EU-Ratschef Michel getroffen. Ergebnisse gab es nicht. Nun soll es weitere Gespräche zwischen der EU und der Türkei geben. Was erwarten Sie davon?
Zuerst muss es um die Frage gehen, ob und in welcher Form der sogenannte EU-Türkei-Deal weiter besteht und ob er verbessert werden kann. Über all dem schwebt die aktuelle Situation an der türkisch-syrischen Grenze. Wegen der Kämpfe um Idlib kommt es dort zu neuen Fluchtbewegungen. Deshalb sollte auch darüber gesprochen werden, wie den Menschen dort vor Ort geholfen werden kann. Eine besondere Brisanz hat das, weil die Türkei ja selbst zu Eskalation der Situation in Idlib beiträgt
Kritiker werfen der EU vor, sie habe aus der Situation von 2015 keine Lehren gezogen und die aktuelle Situation damit mit verschuldet. Wie beurteilen Sie das?
Die EU hat sogar seit 2013 nichts gelernt. Die Situation 2015 war ja nur deshalb möglich, weil sich die Staaten nicht vorbereitet haben. Zwar hat jeder schon zwei Jahre vorher gesehen, dass die Zahl der Flüchtlinge deutlich zunimmt, das haben die Mitgliedstaaten aber nicht zum Anlass genommen, die Konsequenzen zu bedenken und zu handeln. Im Europäischen Parlament haben wir zwar immer wieder gefordert, dass wir die Grenzkontrollen und die Aufnahmesysteme überprüfen sollten, aber passiert ist nichts. Dasselbe gilt für den EU-Türkei-Deal. Der sollte ja keine Dauerlösung sein, sondern dazu dienen, Zeit zu gewinnen, um die innereuropäischen Aufnahmesysteme, aber auch die Grenzkontrollen zu verbessern. Auch hier ist die Zeit ungenutzt verstrichen. Jetzt sind wir in einer Krisensituation, in der wir europäische Grundwerte aufs Spiel setzen.
Woran liegt es, dass nicht gehandelt wurde?
Es gab bereits 2017 einen Beschluss des Europäischen Parlaments, in dem wir die Vorschläge der Kommission zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems aufgegriffen und weitergedacht haben. Allerdings fehlte es schon unter Jean-Claude Juncker an politischer Führung innerhalb der Kommission. Zugleich gab und gibt es Mitgliedsstaaten wie Ungarn und Polen, die sich vehement einer solidarischen Herangehensweise verweigern. Diese Mischung aus nationalem Protektionismus und fehlender Führung hat dazu geführt, dass es keine Entscheidungen gegeben hat. Ob Frau von der Leyen, die ja nicht zuletzt mit Hilfe des ungarischen Präsidenten Orban überhaupt erst zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde, die Richtige ist, etwas in Gang zu setzen, wage ich zu bezweifeln.
Ursula von der Leyen hatte eigentlich noch für März einen neuen Migrationspakt angekündigt. Wird es den vor dem Hintergrund der Coronakrise überhaupt geben?
Eine Vorstellung im März kann ich mir nicht vorstellen. Wir als Parlament hatten schon vor dem Ausbruch der Coronakrise unsere Zweifel, aber in der aktuellen Situation ist es aus meiner Sicht ausgeschlossen, dass die Kommission da im März etwas vorlegt. Zuletzt hatte die zuständige Innenkommissarin Ylva Johansson bereits von Ende April gesprochen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass unabhängig von der Kommission inzwischen eine gewisse Anzahl von Ländern – unterstützt von der EU – bereit sind, selbst in der Flüchtlingspolitik aktiv zu werden. Das müsste dann aber auch bedeuten, dass die Länder, die sich nicht beteiligen, weniger Geld aus den europäischen Töpfen erhalten. Das könnte ein erster Schritt hin zu einem gesamteuropäischen Vorgehen sein.
Diese „Koalition der Willigen“, wie sie gern genannt wird, könnte also zu einem neuen Treiber für die EU-Flüchtlingspolitik werden?
Ja, aber nur dann, wenn sich diese Koalition klar positioniert, das Ganze schnell umsetzt und dafür sorgt, dass diejenigen, die sich nicht beteiligen, auch merken, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Wenn die Koalition der Willigen funktioniert, Flüchtlinge gut untergebracht und Kommunen bei der Betreuung unterstützt werden, könnte das auch ein gutes Beispiel sein für andere.
Mitte des Jahres übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft in der EU. Sollte da die Flüchtlingsproblematik ganz oben auf der Agenda stehen?
Keine Ratspräsidentschaft kann allein irgendetwas bewegen, aber Deutschland könnte in jedem Fall deutliche Signale senden und mit gutem Beispiel vorangehen. Gemeinsam mit anderen Staaten könnte Deutschland in dieser Zeit einen ersten Schritt machen und einen Plan auf den Tisch legen, wie sich die Mitgliedstaaten im Rat auf eine solidarische Reform des Europäischen Asylsystem einigen können. Dabei sollten auch die positiven Beispiele gelungener Integration stärker in den Fokus gerückt werden. Wenn das gelingt, wäre schon eine Menge erreicht.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.