Aus Fehlern gelernt: Wie die SPD die Bundestagswahl gewonnen hat
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– Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht am 30. September 2021. –
Jede Bundestagswahlkampagne hat ihre unvorhersehbaren Besonderheiten. Das gilt in bemerkenswerter Weise auch für 2021. Überschattet waren die Monate vor der Wahl von der Pandemie, die größere Veranstaltungen in geschlossenen Räumen kaum zuließ. Zudem riefen zum ersten Mal gleich drei Parteien eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten aus – ein Tribut an die parteipolitische Fragmentierung auch in der Bundesrepublik. Und zum ersten Mal wurde aus dem üblichen Zweikampf ein Dreikampf, der anfänglich zum Duell zwischen Laschet und Baerbock, auf der Zielgeraden dann doch wieder zum Duell zwischen Laschet und Scholz wurde.
In dieser selten volatilen Konstellation schien die SPD noch vier Monate vor der Wahl ohne jede Chance, auch nur die 20-Prozent-Schwelle zu überschreiten. Sie war eine von vielen auf Dauer abgeschriebene Größe, mit einem scheinbar uninspirierten Kandidaten und eher kläglichen Vertrauenswerten, selbst im sozialen Bereich, ihrer traditionellen Kernkompetenz. Am Ende ging sie mit 25,7 Prozent nicht nur als stärkste Fraktion durchs Ziel, sie überbot das Ergebnis von 2017 um erstaunliche 5,2 Prozent. Damit landete die SPD exakt bei ihrem Ergebnis der Bundestagswahl 2013.
Fehleranalyse als Grundlage für den Wahlerfolg
Eine der bemerkenswerten Entscheidungen des Parteivorsitzenden Martin Schulz 2017 war, seinen eigenen Aufstieg und Fall in der Gunst der Wähler*innen von einer externen Arbeitsgruppe (bestehnend aus Jana Faus, Horand Knaup, Yvonne Schroth, Michael Rüter und Frank Stauss Anm.d.Red.) aufarbeiten zu lassen. Mögen die Ergebnisse von „Aus Fehlern lernen“ für ihn nicht nur schmeichelhaft gewesen sein, sie waren im Rückblick eine der Grundlagen für den Erfolg der SPD vier Jahre später.
Einige der Empfehlungen aus dem Papier, die sich das engere Wahlkampfteam von Olaf Scholz, aber auch die ganze Parteiführung zu eigen gemacht haben, lauten:
Die Geschlossenheit der Partei war – selbst in monatelang frustrierenden Zeiten – einzigartig. Noch nie ist es der SPD während einer Kampagne gelungen, eine vergleichbar geschlossene Außendarstellung abzugeben. Das ist vor allem auch deshalb bemerkenswert, da das Team Geywitz/Scholz Ende November 2019 gegen Esken/Walter-Borjans im Kampf um den Parteivorsitz eine Niederlage einstecken musste. Die neu gewählten Parteivorsitzenden machten von ihrem traditionellen Erstzugriffsrecht auf die Kanzler*innenkandidatur aber keinen Gebrauch, sondern verständigten sich darauf, Olaf Scholz ins Rennen zu schicken. Es ist den beiden Parteivorsitzenden und dem Generalsekretär Lars Klingbeil hoch anzurechnen, dass sie ihre Kräfte gebündelt, die Partei zusammengehalten und den innerparteilichen „Heilungsprozess“ zügig in Angriff genommen haben.
Klare Strategie, kurzes Programm
Als überaus hilfreich hat sich auch die frühe Benennung des Kandidaten erwiesen. Als Annalena Baerbock und Armin Laschet im April 2021 von ihren jeweiligen Parteien auf den Schild gehoben wurden, war Olaf Scholz vielfach durchleuchtet und – Schwächen inklusive – medial quasi ausdefiniert.
Es gab in der SPD ein klar definiertes strategisches Zentrum, das beim Kandidaten angesiedelt war. Der Kampagnenleiter Lars Klingbeil organisierte den Wahlkampf rund um Scholz und stellte sicher, dass in der Parteizentrale Hand in Hand gearbeitet wurde. Bundestagsfraktion und Ministerpräsident*innen waren in den Programmprozess eingebunden, hielten sich aber öffentlich aus inhaltlichen Diskussionen heraus.
Der Parteiführung gelang es, das Wahlprogramm in ein solides Kompendium ohne die übliche Prosa zu packen, so kurz und prägnant (64 Seiten) wie selten.
Wenn die SPD schwach abschneidet, hat sie immer auch schwache Kompetenzwerte im sozialen Bereich. Indem Olaf Scholz den Mindestlohn, ein Bürgergeld und bezahlbaren Wohnraum in den Mittelpunkt seiner Kampagne rückte und auch am Rentenniveau keine Zweifel aufkommen ließ, schloss er auch diese Flanke.
Ein großer Rückhalt war mit einiger Sicherheit auch die gute Regierungsarbeit der sozialdemokratischen Bundesminister*innen. Hubertus Heil, Franziska Giffey, Christine Lambrecht, Svenja Schulze und mit Abstrichen auch Heiko Maas unterschieden sich in der Qualität deutlich von ihren christdemokratischen Kolleg*innen. Insbesondere Vizekanzler Olaf Scholz hatte jedoch mit dem Griff nach dem Bundesfinanzministerium 2018 alles richtig gemacht: Während zweier Großkrisen (Covid-19, Flut) schüttete er nicht nur schnell und umfassend Geld aus, sondern untermauerte zugleich sein Bild als krisenfester Staatenlenker. Im Wahlkampf kam ihm das ohne Zweifel zugute.
Lange vor dem Wahltag hatte die SPD ihre Social-Media-Abteilung ausgebaut. Zwar gehörten bei dieser Bundestagswahl die netzaffinen Generationen nicht zu den stärksten SPD-Kohorten; aber hilfreich war das frühe Social-Media-Engagement allemal.
Die Fehler der anderen
Natürlich kamen auch die Patzer der Konkurrenz Olaf Scholz und seinem Wahlkampf zugute. Laschets und Baerbocks -Stolpereien, Unsicherheiten und Fehler überschatteten die überaus defensive Grundanlage der Scholz-Kampagne. In einem anderen Kontext hätten der SPD-Kandidat und sein Angebot auch leicht als „langweilig“ etikettiert werden können. Und es hätte noch schlimmer kommen können, denn die Geschehnisse rund um Wirecard, Cum-Ex und zuletzt noch um die FIU -hätten den Kandidaten in deutliche Bedrängnis bringen können. Doch das Team rund um Scholz schien mögliche Angriffe antizipiert zu haben und hielt Scholz den Rücken frei. So wurden die Pannen und Versäumnisse der anderen umso sichtbarer.
Sowohl CDU/CSU als auch die Grünen ließen sich mit der offiziellen Nominierung ihres Kanzlerkandidaten bzw. ihrer Kanzlerkandidatin viel Zeit, am Ende zu viel. Besonders für die Union war der Entscheidungsprozess überaus schmerzhaft und trug bereits in sich den nächsten Fehler bzw. war dessen Folge: Der öffentlich ausgetragene Machtkampf zwischen dem CSU-Anführer Markus Söder und Armin Laschet von der CDU offenbarte schon im Frühstadium die Zerstrittenheit zwischen den Schwesterparteien, aber auch innerhalb der CDU. Während Söder immer wieder auf die Basis, die Bundestagsfraktion und seine höheren Popularitätswerte in Meinungsumfragen verwies, bestand Laschet darauf, dass der Bundesvorstand einen Kandidaten ernennen solle; wohl wissend, dass er in der CDU-Parteiführung die besseren Karten haben würde als sein Kontrahent. Und so kam es dann auch: Mit der Unterstützung von Wolfgang Schäuble und Volker Bouffier wurde Laschet in einer langen Sitzung des Parteivorstands zum Kanzlerkandidaten nominiert.
Armin Laschet: Kein Führungsmann
Söder ließ den gesamten Wahlkampf über immer wieder deutlich erkennen, dass er sich für den besseren Kandidaten hielt. Aber auch andere Stimmen in der CDU, besonders aus dem konservativen Lager, kritisierten öffentlich die Entscheidung des Bundesvorstands oder ließen zumindest durchblicken, dass auch sie Laschet nur bedingt für den geeigneten Kandidaten hielten. Warum aber sollten Wähler*innen einen Kandidaten unterstützen, wenn es schon die eigenen Leute – in diesem Fall die Parteimitglieder – nicht tun?
Zumal auch die Wähler*innen in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem Laschet noch Ministerpräsident ist, ihrem Landesvater immer weniger Vertrauen schenkten. Sein Corona-Management wurde kritisiert, genauso wie die Verstrickungen rund um die Maskenaffäre für Schlagzeilen sorgten. So haperte es in Laschets Kampagne einerseits an der nötigen Geschlossenheit, zum andern verpasste er die große Chance, sich als tatkräftiger Krisenmanager zu präsentieren, sich als Führungsmann zu zeigen, dem man auch bei existenziellen Herausforderungen vertrauen kann.
Dabei kam nach der Herausforderung durch die Pandemie unvermittelt ein zweites solches Ereignis in Form der schweren Flut in Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Mehr als 180 Menschen verloren ihr Leben und noch viel mehr ihre gesamte materielle Habe. Doch der ungeschickte Laschet vermochte es nicht, in angemessener Weise zu reagieren. Stattdessen gingen viele auf Distanz zu ihrem Ministerpräsidenten, weil er selbst keine Souveränität ausstrahlte, seine PR-Leute Rettungskräfte bei der Arbeit behinderten und dann noch unglückliche Bilder produzierten, indem sie ihn für eine Pressekonferenz vor einem Berg ruinierter Möbel platzierten. Und dann kam noch das inzwischen schon legendäre Bild dazu, als er während einer Rede des Bundespräsidenten im Hochwassergebiet lachte und scherzte.
So vermochte es Laschet nicht nur nicht, die Flut für sich zu nutzen. Im Gegenteil, er machte sie zu seinem eigenen Desaster, aus dem er als Clown hervorging – eine Zuschreibung, die nicht von den Autor*innen, sondern von Befragten indiversen Umfragen und Fokusgruppen stammt.
Scholz konnte seine Krisenkompetenz unter Beweis stellen
Laschets Parteifreundin und Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel tat zunächst so, als ginge sie der Wahlkampf nichts an und zeigte kaum öffentliche Unterstützung für den Unionskandidaten. Auch während der Flutkatastrophe fuhr sie zuerst nach Rheinland-Pfalz und erst danach nach Nordrhein-Westfalen. In Rheinland-Pfalz entstanden jene empathischen Bilder, auf denen sie mit der SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer Hand in Hand durch das Katastrophengebiet schritt. Es war die Form von Anteilnahme, die sich mancher auch von Armin Laschet gewünscht hätte.
Gleichzeitig gelang es Olaf Scholz als Finanzminister neuerlich, seine Krisenkompetenz unter Beweis zu stellen, indem er schnell und unbürokratisch Gelder für die betroffenen Gebiete bereitstellte. Ähnlich schnell hatte er in der Frühphase der Corona-Pandemie Mittel in dreistelliger Milliardenhöhe bereitgestellt und so einen schweren ökonomischen Einbruch verhindert.
Laschet jedoch zeigte weder das nötige Gespür noch die nötige Krisenfestigkeit. Und auch die Sprache der Menschen sprach Laschet nicht. Statt eines großen Wurfes, eines überraschenden, zupackenden und überzeugenden Politikangebots kündigte er ein „Planungsbeschleunigungsgesetz“ an. Ein Wortungetüm, das weniger an Zukunftsfähigkeit als eher an einen drögen Verwaltungsakt erinnert. Weil das nicht verfing, versuchte er drei Wochen vor der Wahl mit seinem Zukunftsteam Krisenkompetenz zu suggerieren. Zuvor hatte er sich ausdrücklich gegen ein Team an seiner Seite ausgesprochen – bis er in Anbetracht der schlechten Umfragewerte seine Ablehnung aufgab. Der tiefere Sinn dieses Teams erschloss sich den Wähler*innen bis zum Schluss nicht, auch die acht Gesichter blieben weitgehend unbekannt.
Der Angriff kam zu spät
Erst spät im Wahlkampf, im zweiten TV-Triell, schaltete Laschet einen Gang hoch, ging in den Angriffsmodus über und attackierte Scholz, der die Offensive jedoch gelassen parieren konnte. Der Angriff kam zu spät: Zu diesem Zeitpunkt waren bereits überdurchschnittlich viele Briefwahlunterlagen angefordert und mutmaßlich auch ausgefüllt.
Auch die Grünen nominierten ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock spät, zu spät. Zwar traten die Grünen deutlich geschlossener auf als die Union, doch durch das lange Zögern und die Spekulationen über die Spitzenkandidatin bzw. den Spitzenkandidaten richtete sich der Fokus der Medien danach umso mehr auf Laschet und Baerbock.
Das zeigte sich anfänglich als Vorteil für Baerbock, doch genauso wenig wie Laschet konnte sie sich die neue Aufmerksamkeit zunutze machen. Offensichtlich hatten die Grünen keinen adäquaten Plan in der Schublade, um mögliche Angriffe auf ihre Spitzenfrau abzuwehren. Und so verhedderte sich die Kampagne in Abwehrkämpfe gegen Vorwürfe, Baerbock hätte ihren Lebenslauf geschönt oder in ihrem Buch plagiiert. Statt planvollem Vorgehen erschienen die Reaktionen nervös und kopflos. Sie schalteten den bekannten Medienanwalt Christian Schertz ein, um sie vor dem „Versuch zum Rufmord“ zu schützen. Souverän wirkte das alles nicht. Danach tauchte Baerbock für einige Wochen ab und überließ die Bühne mehr oder weniger Robert Habeck.
Personalisierung als A und O
In einem Wahlkampf, in dem es in erster Linie darum ging, den/die geeignete*n Merkel-Nachfolger*in zu suchen, das Land aus der aktuellen Krise und durch die kommende Krise zu führen, ist Personalisierung das A und O. Das gelang den Grünen nicht. Ähnlich inkonsistent wie die -Positionierung der Kanzlerkandidatin blieb die Kampagne. Die Zielgruppe der Wähler*innen, die die Grünen erreichen wollten, blieb bis zum Ende unklar, was sich beispielsweise an einem verunglückten Werbespot zeigte, bei dem fröhliche Senior*innen ein Liedchen auf kein schöner Land trällerten. Die Grünen feierten zwar die Zahl der Klicks, jedoch fing sich der Clip vor allem Spott und Häme ein und dürfte zumindest die jüngere, netzaffine Wähler*innenschaft nicht überzeugt haben.
Kurz darauf präsentierten die Grünen-Strateg*innen einen weiteren Spot mit Baerbock im Zentrum, der ein deutlich düsteres Bild zeichnete und mit schnellen Schnitten vor den katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels warnte. Wie das mit kein schöner Land einhergehen soll, erschloss sich den Wähler*innen ebenfalls nicht.
Man hätte davon ausgehen können, dass die Flutkatastrophe insbesondere den Grünen nützt. Die Grünen hätten anschaulich für ihre klimaschutzpolitischen Ideen kämpfen können, die Betroffenen des Klimawandels bekamen die Wucht der Veränderung am eigenen Leibe zu spüren. Doch sie schafften es in ihrer Kampagne nicht, diesen Zusammenhang herzustellen.
Reicht es fürs Kanzleramt?
Stattdessen nutzte Olaf Scholz die Gunst der Stunde – und ließ sich auch von der ungewohnten Rolle nicht irritieren: Auf einmal musste Armin Laschet attackieren, und der Sozialdemokrat konnte parieren. Auf einmal stand der Christdemokrat auf dem Dauerprüfstand, an Scholz perlten alle Vorhaltungen ab.
Zumal der vieles richtig machte: Er konzentrierte sein Angebot auf einige wenige zentrale Positionen – Mindestlohn, Bürgergeld, Wohnungsbau, Respekt. Er blieb seiner einfachen, bisweilen auch langweiligen Sprache treu, und er stellte lebensnahe Themen in den Mittelpunkt seiner Kampagne: die Entlohnung, die Rente und das Wohnen. Die Union hatte ihre Position in vielen dieser Themen innerparteilich nicht geklärt.
Und nicht zuletzt nutzte Scholz sein Amt als Bundesfinanzminister. Er landete medienwirksam mit der Regierungsmaschine in Washington, er schüttete Hunderte von Milliarden gegen die Corona-Krise aus, er war auch mit viel Geld gleich nach der Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zur Stelle. Er demonstrierte Problemlösungskompetenz, wo Kontrahent Laschet unglückliche Bilder produzierte. Er hielt die Balance zwischen mutmaßlich solider Regierungskunst und einem diffusen gesellschaftlichen Bedürfnis nach Aufbruch. Ein solches Angebot hatte die SPD lange nicht mehr.
Olaf Scholz katapultierte seine Partei noch einmal in nicht mehr für möglich gehaltene Höhen. Die Grundlagen waren ein bisschen Handwerk, ein bisschen Erfahrung aus früheren Kampagnen und, ja, auch ein bisschen Glück. Ob es fürs Kanzleramt reicht, ist noch nicht entschieden. Aber nach diesem Wahlkampf und dem verdienten Wahlerfolg spricht viel dafür.
Der Text erschien zuerst auf der Internetseite der Friedrich-Ebert-Stiftung.
ist Co-Gründerin und Geschäftsführerin der pollytix strategic research gmbh, einer Agentur für forschungsbasierte Beratung. Sie ist Autorin zahlreicher Studien, unter anderem für die Friedrich-Ebert-Stiftung.