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Europas Sparkurs: Gegen jede ökonomische Vernunft

Dass marktliberal gesinnte PolitikerInnen Austeritätspolitik und Schuldenabbau um jeden Preis fordern, ist wenig überraschend. Aber warum sind arbeitnehmernahe Parteien in Europa kaum noch in der Lage, diesem kontraproduktiven und gefährlichen Denken etwas entgegenzusetzen?
von Till van Treeck · 29. März 2017
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Debatte um die Zukunft Griechenlands braucht mehr Rationalität

In der Rede wird einmal ungefiltert die Position des in Deutschland sonst völlig zu Unrecht als verantwortungsloser Hasardeur karikierten griechischen Ökonomie-Professors und Finanzministers deutlich. Bei unvoreingenommener Betrachtung muss die Rede als Dokument des europäischen Humanismus und des ökonomischen Sachverstands anerkannt werden. Die anschließende Diskussionsrunde zeigt exemplarisch auf, wie ein zivilisierter und auf Verständigung bedachter Austausch zwischen griechischen und deutschen PolitkerInnen und ÖkonomInnen aussehen könnte. Doch leider hat die Debatte um die richtige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik für Europa besonders in Deutschland längst alle Rationalität verloren und ist zunehmend geprägt von Stereotypen und, man kann es nicht anders sagen, ökonomischem Analphabetismus.

Dass selbst führende sozialdemokratische Politiker sich daran beteiligen, die griechische Regierung öffentlich zu demontieren, und auf die Fortsetzung der offensichtlich gescheiterten Austeritätspolitik pochen, ist beschämend. Der bisherige Höhepunkt dieses Vorgehens war der jüngste Beitrag des Bundeswirtschaftsministers und SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel in der BILD-Zeitung. Darin und in einem Interview für die ARD fordert Gabriel, dass „ein paar Spieltheoretiker in der griechischen Regierung“ nun endlich Verantwortung übernehmen und sich nicht weiter gegen zusätzliche staatliche Ausgabensenkungen sträuben sollen, weil sonst ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro nicht mehr verhindert werden könne. Denn sonst bestünde die Gefahr, „dass wir uns lächerlich machen“, wenn nach immer weiteren Verhandlungsrunden nicht irgendwann Konsequenzen folgen. In der BILD-Zeitung äußert Gabriel daher Verständnis für die Verärgerung gegenüber Griechenland und für die Stimmung: „Es reicht“.

Austeritätspolitik gegen jede ökonomische Vernunft

Nimmt man in der SPD eigentlich wahr, dass das ungebrochene Loblied auf die Austeritätspolitik im krassen Widerspruch zum versammelten Sachverstand international renommierter WirtschaftswissenschaftlerInnen steht? Deren warnende Stellungnahmen zum gegenwärtigen, stark von der deutschen Politik geprägten Kurs sind gerade in den letzten Wochen so laut geworden, dass man sie eigentlich nicht überhören kann. Der jüngste Aufruf von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Thomas Piketty und anderen in der Financial Times für ein Ende der Austeritätspolitik ist nur ein Beispiel von vielen. In der internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Debatte herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Austeritätspolitik in Europa mit erheblichen makroökonomischen Kosten verbunden ist und entscheidend zu der seit Jahren hohen Arbeitslosigkeit beigetragen hat. So weist die neue Chefredakteurin der liberalen Wirtschaftszeitung The Economist in einem aktuellen Interview wie selbstverständlich darauf hin, dass das Beharren Deutschlands auf einem strikten Sparkurs in Europa „gegen jede ökonomische Vernunft“ ist.

Auf ähnliche Weise verlieh der britische Ökonom Simon Wren-Lewis von der Universität Oxford bei einem Besuch in Deutschland seiner Verwunderung über die geradezu antikeynesianische Haltung unter ÖkonomInnen und PolitikerInnen in Deutschland Ausdruck, die in krassem Gegensatz zum internationalen Mainstream der Volkswirtschaftslehre steht. Besonders erstaunlich ist dieser deutsche Sonderweg vor dem Hintergrund der Erfahrung der 1930er Jahre, als die Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning die Depression verschärfte, was zusätzlich zur Destabilisierung der Demokratie beitrug. In einem aktuellen Beitrag weist Jeffrey Sachs auf die Parallelen zwischen der heutigen Situation in Griechenland und der Situation in Deutschland von 1933 hin. 

Spardiktat gleicht Versailler Vertrag

Der Nobelpreisträger Amartya Sen vergleicht derweil das aktuelle Spardiktat mit dem Versailler Vertrag. Damals wurden Deutschland bekanntlich untragbare Reparationszahlungen aufgebürdet, welche die heimische Wirtschaft in unerträglichem Maße belasteten. Ganz anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Alliierten darauf verzichteten, Deutschland zu einem Agrarstaat zu machen und stattdessen im Zuge des Marshall-Plans und eines großzügigen Schuldenerlasses wieder auf die Beine halfen. Völlig zu Recht forderte Yanis Varoufakis letzte Woche in Berlin einen symbolischen Akt von der deutschen Bundesregierung, der vergleichbar wäre mit der „Hoffnungsrede“ des US-amerikanischen Außenministers James Byrnes in Stuttgart im September 1946.

Spielen diese basalen historischen und ökonomischen Erwägungen für die SPD-Parteispitze wirklich keine Rolle? Wieso werden grundlegende gesamtwirtschaftliche Erkenntnisse, die selbstverständlicher Bestandteil des ökonomischen Mainstreams sind, einfach ignoriert? Simon Wren-Lewis beklagt in einem ähnlichen Kontext den zunehmenden „ökonomischen Analphabetismus“ der britischen Labour Party: Dass marktliberal gesinnte PolitikerInnen trotz unausgelasteter Produktionskapazitäten, hoher Arbeitslosigkeit und Niedrigstzinsen Austeritätspolitik und Schuldenabbau um jeden Preis fordern, ist wenig überraschend. Für sie ist es ein willkommener Vorwand, dem Staat Ressourcen zu entziehen. Aber warum sind arbeitnehmernahe Parteien kaum noch in der Lage, diesem aus ökonomischer Sicht kontraproduktiven und aus historischer Sicht gefährlichen Denken etwas entgegenzusetzen? Was verleitet sozialdemokratische SpitzenpolitikerInnen dazu, in der BILD-Zeitung mit den Wölfen zu heulen und dabei obendrein die nationale Karte zu spielen, anstatt für alternative, stärker erklärungsbedürftige wirtschaftspolitische Konzepte zu werben (wie beispielsweise hier). Dazu muss man wirklich sagen: „Es reicht!“

Der Varoufakis-Besuch in Berlin und die Reaktionen der deutschen Politik zeigen daher vor allem eines: Eine Reform des ökonomischen Denkens in Deutschland ist überfällig.

Autor*in
ist seit 2013 Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen und Vorstandsmitglied der Forschungssstelle für wissenschaftsbasierte gesellschaftliche Weiterentwicklung (FWGW).
Till van Treeck

ist seit 2013 Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen und Vorstandsmitglied der Forschungsstelle für wissenschaftsbasierte gesellschaftliche Weiterentwicklung (FWGW).

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