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Wie die Deutsche Bahn Menschen mit Behinderung Reisen erschwert

Wenn man mit Rollstuhl Bahnfahren will, wird schon der Ticketkauf zur Herausforderung. Der SPD-Landtagsabgeordnete Constantin Grosch weiß das aus eigener Erfahrung. „Da geschieht viel Diskriminierung“, sagt Grosch.
von Vera Rosigkeit · 10. August 2023
Als Vielfahrer im deutschen Regional- und Fernverkehr unterwegs: der SPD-Abgeordnete im niedersächsischen Landtag, Constantin Grosch.
Als Vielfahrer im deutschen Regional- und Fernverkehr unterwegs: der SPD-Abgeordnete im niedersächsischen Landtag, Constantin Grosch.

Was ärgert Sie als Vielfahrer, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, am meisten an der Deutschen Bahn?

Es ist für mich zwar nachvollziehbar, dass man nicht jeden Bahnhof von heute auf morgen umbauen kann. Aber dass man immer noch in ein oder zwei Generationen rechnen muss, bis Zugänge barrierefrei werden, das dauert mir einfach zu lange. Was mich inzwischen aber am meisten ärgert, ist die Ignoranz. Es gibt einen enormen Unterschied in der Behandlung, ob ich ein Mensch mit Behinderung bin oder nicht. Da geschieht viel Diskriminierung.

„Nur zwei (0,4 Prozent) der über 500 Sitzplätze sind Rollstuhlplätze“

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein eher banales Beispiel ist die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen immer nur in einer Klasse reisen können: nämlich in der zweiten. Ich will mich nicht darüber beschweren, dass ich nicht erste Klasse reisen kann, aber das allein bringt etwas zum Ausdruck. Auch sitzen Rollstuhlfahrer*innen immer exakt im Familienbereich zwischen Toilette und Bistro. Für Menschen, die Bahnfahrten auch zum Arbeiten nutzen, ist das nicht immer der beste Ort, um sich konzentrieren zu können.

Krasser ist allerdings, dass ich kein Online-Ticket buchen kann, weil online nicht angezeigt wird, ob Rollstuhlplätze frei sind oder nicht. Da ich aufgrund der fehlenden Barrierefreiheit vieler Züge auf Unterstützung beim Einsteigen angewiesen bin, fordert die Bahn, mindestens einen Tag vorher die Reise anzumelden und dafür ein Formular mit rund 40 Feldern ausfüllen. Deshalb kaufe ich inzwischen ein Ticket und frage per E-Mail an, ob meine Verbindung möglich ist. Für jede Bahnfahrt erhalte ich dann sieben Rückmeldungen. Wenn ich Pech habe, ist der Platz belegt und ich muss eine neue Verbindung suchen. Nur zwei der mehr als 500 Sitzplätze sind Rollstuhlplätze (0,4 %). Dabei muss ich mich stets an die Dienstzeiten des Mobilitätsservice halten, damit Personal zum Bedienen der Hublifte an den Bahnhöfen bereitsteht.

Wie sieht es bei Verspätungen der Züge aus?

Dann muss das Personal vor Ort warten, evt. auch Überstunden machen. Generell ist es schwierig, Unterstützung zu finden, denn die einzelnen Bereiche sind von unterschiedlichen Konzerntöchtern organisiert. Für Aufzüge oder Hublifte ist die DB Station&Service AG zuständig, für den Zug die DB Personenverkehr AG und für die Frage, wie hoch die Bahnsteigkante ist, ist die DB Netz AG zuständig. Dazu gibt es dann noch die Mobilitätsservicezentrale, die für alle Bahnunternehmen zuständig ist.

„Auf dem Buchungsportal der Deutschen Bahn kann man angeben, ob man mit Hund reist, aber nicht, dass man Rollstuhlfahrer ist“

So wird man unfreiwillig Spezialist für Bahnreisen?

Ich habe mal aus Spaß einen Reservierungsvorgang bei der Bahn auf Video aufgenommen. Das ist 20 Minuten lang. Auch wenn man den Vorgang abgeschlossen hat, weiß man immer noch nicht, ob es klappt. Man kann auf dem Buchungsportal der DB inzwischen angeben, ob man mit Hund reist, aber nicht, dass man Rollstuhlfahrer ist. Es wäre schon eine große Hilfe, zu wissen, ob überhaupt ein Rollstuhlplatz frei wäre. Inzwischen buche ich keine Verbindung mehr, die mehr als zwei Umstiege hat, weil das ohnehin oft nicht klappt. Entweder sind die Aufzüge defekt oder die Behindertentoiletten, was dazu führt, dass sich die Bahn oft weigert, mich in diesem Zug mitzunehmen.

Klingt abschreckend…

Das Problem ist, dass es für Menschen mit Behinderungen wenig Alternativen gibt und sie mehr auf die Bahn angewiesen sind als andere. Viele können nicht Autofahren und auch die Fernbusse sind schlecht organisiert und können oftmals keine Rollstühle mitnehmen.

Wie könnte es besser aussehen?

Beispielsweise haben Züge in der Schweiz unterschiedliche Einstiege, einen in der Mitte sowie jeweils zwei an den Enden der Waggons. Dort kommt man mit dem Rollstuhl ebenerdig in den Zug sowohl an den niedrigeren Bahnsteigen als auch an höheren des Fernverkehrs. Ein einfaches Prinzip ohne teuren Hublift. In Spanien dürfen laut Gesetz nur noch Züge gebaut werden, die barrierefrei sind. In Frankreich lassen sich Rollstuhlplätze online buchen, auch für die Begleitperson. In Deutschland hingegen sind neue ICE-Züge bestellt, die wieder Stufen haben. Im neuen ICE 4 gibt es zwar einen elektrischen Hublift, der jedoch braucht allein sechs Minuten zum Aufbau. Oft weiß das Personal nicht, wie er zu benutzen ist, wenn er überhaupt funktioniert. Und dann muss man pro Nutzung mit mindestens 15 Minuten Verspätung bei der Abfahrt aus dem Gleis rechnen.

Wir als Betroffene verlangen nichts Unmögliches. Wir haben ein Interesse daran, dass das, was schnell und gut umzusetzen ist, auch umgesetzt wird.

„Wir wünschen uns, dass man uns als Kundinnen und Kunden betrachtet und nicht als Beförderungsfälle“

Muss die Politik aktiver werden?

Die Bahn könnte vieles im Alltag besser machen. Was wir uns wünschen ist, dass man uns als Kundinnen und Kunden betrachtet und nicht als Beförderungsfälle. Derzeit ist mein Eindruck ein anderer: man versucht, das Bahnfahren mit Rollstuhl so unattraktiv wie möglich zu machen, damit möglichst wenige von uns sie nutzen.

Grundsätzlich brauchen wir aber eine andere Gesetzgebung, allerdings nicht nur für die Mobilität. Wir brauchen ein allgemeines Gesetz zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in der Privatwirtschaft. In staatlichen Einrichtungen haben wir das bereits: ob Rathauseingänge oder Formulare; all das muss barrierefrei sein. Für die Privatwirtschaft fehlen diese Regelungen.

Leider ist das Thema der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen eines, das zeitlich nie wirklich drängend ist. Aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft sind immer andere Sachen wichtiger. Als ich angefangen habe mich zu engagieren, war gerade Finanzkrise. Dann kam Corona, jetzt die Energiekrise: was fehlt ist ein Auslöser, den die Politik oft braucht, um zu sagen, jetzt nehmen wir uns diesem Thema mal an.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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