Meinung

Damit nicht alles so wird wie es war: Was wir nach Corona ändern müssen

Die Corona-Krise gibt uns Gewissheit: Der Staat ist handlungsfähig, er kann Gemeinwohlinteressen durchsetzen. Das sollte er für mutige Veränderungen nutzen, damit nach der Krise nicht alles wieder so ist wie es vorher war.
von Hans-Jürgen Burchardt · 15. April 2020
Nach der Krise heißt es umsteuern – und z.B. stärker in Erneuerbare Energien zu investieren.
Nach der Krise heißt es umsteuern – und z.B. stärker in Erneuerbare Energien zu investieren.

Auch Politik kann töten. Entschlossen, überzeugend, grenzenlos und ohne Rücksicht auf Verluste optimiert sie seit dem Mauerfall die Bedingungen für die Finanzmärkte, große Vermögen, Unternehmen und Wirtschaft. Der Globalisierung öffnete sie Tür und Tor und behinderte ihre soziale und ökologische Regulierung. Weltweit wurde die öffentliche Daseinsvorsorge vernachlässigt und Umwelt zerstört. Milliarden Menschen leben heute in der Misere. Besonders obszön: All dies geschieht unter dem Banner des Wohlstands und der Freiheit.

In der Corona-Krise macht der Staat alles richtig

Diese Position ist verstörend. Macht die Politik doch in der aktuellen Corona-Krise alles richtig: Sie stellt den Schutz der Schwachen über die Interessen der Wirtschaft, sie klärt auf, sie entscheidet, sie handelt zum Wohle der Menschen. Viele Staaten besinnen sich auf ihre Kernaufgabe: Schaffung und Schutz des Gemeinwohls für alle. Auf den zweiten Blick macht gerade das nachdenklich: Warum erzählen uns diese heute so energischen Staaten seit Jahrzehnten, dass sie die ökonomische Globalisierung nicht einhegen können, dass die liberalisierten Finanzmärkte nicht kontrollierbar und große Vermögen nicht besteuerbar sind, dass aus wirtschaftlichen Effizienzgründen öffentliche Dienste abgebaut und Löhne gesenkt werden müssen? Warum reagiert man auf Greta Thunbergs berechtigte Warnungen vor einer viel größeren Menschheitskatastrophe nicht mit der gleichen Entschlossenheit, sondern bestenfalls mit distinguierter Betroffenheit und schüchternen Maßnahmen?

Die Corona-Krise gibt uns Gewissheit: Der Staat ist handlungsfähig, er kann Gemeinwohlinteressen durchaus durchsetzen – wenn er will, wie er will und wo er will. Er kann in Europa gewichtige Dogmen wie die Schuldenbremse, die schwarze Null und sogar die EU-Maastricht-Kriterien per Handstreich aussetzen, Unternehmen verstaatlichen und mit Corona-Bonds die alte Idee der europäischen Gesamtverschuldung aufleben lassen. Das ist mehr als ein Anfang, das ist eine Perspektive!

Corona schreit nach einer globalen Antwort

Schließlich ist es nicht nur das hochinfektiöse Corona-Virus, das tötet. Es sind genauso die tiefen Gräben der sozialen Ungleichheit, das materielle Elend nennenswerter Teile der Weltbevölkerung und die vollständige Abwesenheit oder Zerklüftungen der sozialen Dienste, die die Politik bisher toleriert oder sogar befördert hat. Doch das Virus ist ein Gleichmacher; es lässt sich weder von Landes- noch von sozialen Grenzen aufhalten.

Die grenzüberschreitende Pandemie schreit nach einer koordinierten globalen Antwort. Viele Länder erklären dem Corona-Virus den Krieg. Aber das lässt sich nicht erschießen. Wer es besiegen will, muss seine Strategie anpassen: sofortige Aussetzung aller kriegerischen Handlungen weltweit. Umgehende Umwidmung der Hälfte der weltweiten jährlichen Rüstungsausgaben von 1,8 Billionen US-Dollar für die globale Gesundheitsversorgung, mit der sich neben dem Virus eine große Zahl weiterer Krankheiten bekämpfen lässt. Der Adressat für Rüstung ist ausschließlich die Politik. Hier können die EU und die NATO bespielhaft vorangehen und das aktuelle Wettrüsten bremsen.

Lässt sich das Virus auch nicht durch Grenzen aufhalten, werden Rechtspopulisten und Nationalisten die öffentliche Stimmung weiter gegen den freien Verkehr von Geld, Waren und Menschen aufheizen. Dies gelingt, weil die Politik bisher die internationale Zusammenarbeit verschlafen hat. Doch allein ein Blick auf die USA zeigt: Nationale Alleingänge konnten die Ausbreitung nicht verhindern, verschlimmern aber deren Folgen.

Europa könnte heute anders dastehen

Eine konzertierte Weltinnenpolitik hätte die Ausbreitung des Virus verlangsamt und eingedämmt. Europa führt das besonders schmerzhaft vor Augen: Hätte die EU, statt sich in ihre nationalen Schneckenhäuser zu verkriechen, Italien mutig und großzügig geholfen, würde Europa heute und morgen anders dastehen. Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die gut gerüsteten Krankenhäuser Österreichs und Deutschlands sofort italienische Schwerkranke aufgenommen hätten? Zurzeit entscheiden wir, ob wir wieder in kleingeistige Kleinstaaterei zurückfallen oder ob es uns gelingt, die europäische Freizügigkeit zu bewahren.

Die einzigen Grenzen, über die jetzt zu verhandeln ist, sind die, die mehr Abstimmung, Integration und Hilfe blockieren. Dies gilt für Europa wie für die Welt: Die WHO zeigt bei der Bekämpfung der Pandemie täglich die Leistungsfähigkeit multilateraler Kooperationen. Der IWF hingegen strotzt vor Menschenverachtung, wenn er einem von einer sozialen Katastrophe geplagten Land wie Venezuela aufgrund politischer Befindlichkeiten Hilfe verweigert.

Die Lehren sind einfach: Mehr Ressourcen für die UN sowie für regionale und internationale Organisationen bei deren gleichzeitiger Demokratisierung. Sofortige Aussetzung aller Sanktionen gegen Länder wie Iran, Kuba oder Simbabwe aus humanitären Gründen. Einrichtung eines umfangreichen internationalen Hilfsfonds und Schuldenerlass für gefährdete Länder im Globalen Süden. Jedes schwache Gesundheitssystem erhöht das Risiko einer weltweiten Virus-Ausbreitung.

Wer gegen Corona-Bonds ist, schürt die nächste Krise

Schon jetzt versuchen große Finanzakteure, aus der Corona-Krise Gewinn zu ziehen, wie die jüngsten Spekulationen gegen den Eurozusammenhalt zeigten. Ökonomische Instrumente sind nur sehr bedingt in der Lage, die Finanzmärkte auf die Finanzierung von Daseinsvorsorge, öffentlichen Diensten oder ökologischen Investitionen auszurichten. Wir brauchen deshalb jetzt eine massive öffentliche Kreditaufnahme. Wer heute gegen europäische Corona-Bonds ist, hat die Krise immer noch nicht verstanden. Und schlimmer: Er schürt bereits die nächste.

Gleichzeitig ist jetzt eine demokratische Beschränkung der Finanzmärkte durch Kredit- und Devisenkontrolle vonnöten. Die Gewinne aus Vermögen und Kapital, aber auch die großen Erben müssen deutlich höher besteuert werden. Es ist an der Zeit, endlich das eine Prozent der Weltbevölkerung in die gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und effektiv zu besteuern, welches weit über 40 Prozent des Weltvermögens besitzt. Das ist technisch nicht schwierig und kann jedes Land für sich selbst tun. Wichtig ist nur eine internationale Kooperation, die Steueroasen austrocknet und Kapitalflucht verhindert. Die Schwächung der Londoner Börse durch den Brexit eröffnet hier exzellente Ausgangsbedingungen, und Deutschland als einer der größten Schattenfinanzmarktplätze sollte mutig voranschreiten. 

Es geht um einen echten Wandel

Zurzeit werden in vielen Ländern die größten Konjunkturpakete nach dem Zweiten Weltkrieg geschnürt. Diese Unterstützung ist zur Abfederung der Krisenfolgen unabdinglich. Corona-Zeit kann also die Zeit eines New Deals werden, der nicht nur alle umfasst, sondern alle verpflichtet (also auch Unternehmen und Vermögende), und in der der demokratische Staat nicht nur den Weg freimacht, sondern Takt und Ziel vorgibt. Ersteres wurde bereits mit Elan angegangen, bei letzterem scheint sich die Politik noch vor ihrem eigenen Mut zu fürchten. Machen wir ihr Beine! Die Zielsetzung ist doch klar: Es geht um einen ebenso ökologischen wie sozial-verträglichen Wandel, wie ihn z.B. die Ansätze einer "Just Transition" vorschlagen.

Es ist überraschend, wie phantasielos viele Regierungen bisher vorgehen. Sie setzen primär auf Stabilisierung und Systemerhalt. Bei Verstaatlichungen wird vor allem an die Verstaatlichung von Verlusten gedacht. Weniger aber daran, dass neue Eigentumsformen ausprobiert oder Mitbestimmungsrechte der Arbeitenden ausgeweitet werden können. In den Schlüsselindustrien – allen voran der Automobilindustrie – werden jetzt zweifelsohne enorme Rationalisierungsoptionen (Stichwort: Digitalisierung) umgesetzt.

Doch gleichzeitig bestehen außergewöhnliche Chancen, die gesamte Wirtschaft stärker auf ökologisch verträgliche Produktionsformen zu verpflichten, den Individualverkehr zugunsten der öffentlichen Mobilität zurückzufahren, Technik-Recycling zu stärken etc. Die Nachrichten, dass bestimmte Länder dank der Krise unerwartet ihre Klimaziele erreichen, klingen nur auf dem ersten Blick zynisch. Sie zeigen Wege auf. Bei der Planung der jüngsten Konjunkturprogramme scheint die Notwendigkeit einer ökologischen Wende noch nicht angekommen zu sein.

Die Daseinsvorsorge stärken

Die temporäre Aussetzung der Produktion in vielen Großindustrien darf nicht zur Garantie werden, dass diese den größten Anteil der staatlichen Hilfen erhalten. Es ist genau darauf zu achten, dass es eine ausgewogene Verteilung gibt, die stark die kommunale Wirtschaft, kleine und mittelständische Betriebe und regionales Wirtschaften unterstützt und gerade mit Blick auf Nachhaltigkeitskriterien Liefer- und Produktionsketten verkürzt. Ohne gleich dem Welthandel abzuschwören, der durch kluge Regulierung durchaus Wohlfahrtseffekte für alle sichern kann, ist zu überlegen, inwieweit eine wirtschaftliche Re-Regionalisierung nicht nur dem Klima guttut.

Wenn nicht nur das Corona-Virus tötet, sondern auch die Ignoranz, unser Gemeinwohl zu hegen, müssen wir endlich genug Ressourcen für unsere Daseinsvorsorge einsetzen. Hier sind besonders die reproduktiven Tätigkeiten in Betreuung und Pflege aufzuwerten. Diese – oft feminisierte – Arbeit wird bisher kaum wertgeschätzt. Erst die Corona-Krise hat ihr die Bedeutung gegeben, die sie für uns alle schon immer hatte: Sie ist „systemrelevant“.

Als erstes heißt es weltweit, die unzureichenden oder kaputtgesparten Gesundheitssysteme so rasch wie möglich in die Lage zu versetzen, mit dem Ansturm der Erkrankten umzugehen. In vielen Ländern der Welt gibt es aber kaum öffentliche Dienste; hier ist durch Direkthilfen oder Sozialpakte eine Grundsicherung zu gewähren. Wo solche Maßnahmen nicht gelingen oder nicht gewollt sind, wird der Blutzoll unerträglich hoch sein.

Nach der Krise ist vor der Krise

Nach der Corona-Krise muss es darum gehen, mit massiven öffentlichen Infrastrukturinvestitionen in Gesundheit, Bildung, Betreuung und Pflege, Grundversorgung, Transport sowie eine Stärkung des ländlichen Raums eine möglichst universelle Daseinsvorsorge für alle aufzubauen. Jetzt ist der Zeitpunkt, für ganz Europa über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken.

Doch machen wir uns nichts vor: Nach der Krise ist vor der Krise! Die Schockwellen, mit der das Corona-Virus gerade die Bruchstellen unserer Zeit zum Krachen bringt, garantieren noch keine Veränderung. Krisen sind Prozesse, in denen soziale, ökonomische, kulturelle und politische Konstellationen erschüttert, aufgebrochen und neue Konstellationen hervorgebracht werden können, sich aber Bestehendes ebenso verhärten kann.

Die Zeche für die jetzigen staatlichen Konjunkturspritzen zahlen wir alle. Alle? Fallen wir nach der Krise in die alten Muster zurück, werden bald wieder weltweit Austerität und Finanzmärkte dominieren und Sparpolitiken diktiert, die zu Kahlschlag und Sozialabbau führen, der vermutlich mehr Menschen tötet als das Corona-Virus heute.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Hans-Jürgen Burchardt

ist Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen an der Universität Kassel.

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