Meinung

Chemnitz fordert unsere Demokratie heraus

Die Ausschreitungen von Chemnitz sind ein Fanal für die demokratische Kultur in Deutschland. Die Reaktionen bis weit ins demokratische Spektrum hinein zeigen, dass etwas ins Wanken geraten ist. Das ist brandgefährlich.
von Kai Doering · 31. August 2018
Aufmarsch in Chemnitz: Neonazis bestimmen mehr und mehr die Grundstimmung der Demokratie in Deutschland.
Aufmarsch in Chemnitz: Neonazis bestimmen mehr und mehr die Grundstimmung der Demokratie in Deutschland.

Am 6. März 2015 schmiss Markus Nierth hin. Als Neonazis planten, vor das Haus zu ziehen, in dem er und seine Familie leben, war für den ehrenamtlichen Bürgermeister von Tröglitz eine rote Linie überschritten. Kurz darauf war die Ortschaft in Sachsen-Anhalt bundesweit in den Schlagzeilen. Es gab Morddrohungen und einen Brandanschlag. Was hatte Nierth getan, um in den Fokus der Rechten zu geraten? Er hatte für Verständnis bei den Einwohnern von Tröglitz geworben, dass der Burgenlandkreis in ihrem Ort 60 Flüchtlinge unterbringen wollte.

Die Rechten bestimmen die Grundstimmung der Demokratie

Über seine Erlebnisse hat Markus Nierth ein Buch geschrieben. „Brandgefährlich“ heißt es und ist 2016 erschienen. Darin beschreibt der ehemalige Bürgermeister, wie es sich anfühlt, wenn ein ganzer Ort von Neonazis instrumentalisiert wird und sich gegen einen stellt. Die Rechten verfolgen laut Nierth eine „Raumeroberungsstrategie“, indem sie versuchten, dünn besiedelte Landstriche, besonders in Ostdeutschland, zu übernehmen. So bestimmten sie „mehr und mehr die Grundstimmung in unserer Demokratie“.

Dreieinhalb Jahre später darf sich Markus Nierth bestätigt fühlen. In Chemnitz können gewaltbereite Neonazis mit einschlägigen Gesten und Kleidung von der Polizei weitgehend unbehelligt durch die Straßen ziehen – und ernten dafür Verständnis, etwa von AfD-Chef Alexander Gauland, aber auch weit über die Reihen der AfD hinaus. „Antifaschisten sind auch Faschisten“, twittert der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Sebastian Czaja. Und sein Parteifreund Wolfgang Kubicki – immerhin Vizepräsident des Deutschen Bundestags – findet: „Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‚Wir schaffen das‘ von Kanzlerin Angela Merkel.“ Bereits im Juni hatte Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder gefordert, der „Asyltourismus“ müsse gestoppt werden.

In Deutschland hat sich etwas verschoben

Es sind Äußerungen wie diese bis weit ins demokratische Parteienspektrum hinein, die zeigen, dass sich etwas verschoben hat in Deutschland. Nachdem Anfang der 90er Jahre rechtsextreme Gewalt Städtenamen wie Mölln, Hoyerswerda und Solingen zu Mahnmalen gegen den Hass gemacht hatte, herrschte lange die Gewissheit, so etwas werde schon nicht wieder passieren. Wie zerbrechlich diese Hoffnung ist, zeigt sich nun.

In Chemnitz gelang es den Neonazis innerhalb von Stunden, hunderte Mitstreiter zu mobilisieren. Am Montag zeigten tausende normaler Chemnitzer Bürger keinerlei Berührungsängste, Schulter an Schulter mit ihnen durch die Stadt zu marschieren. Diese Stimmung ist – um noch einmal den Buchtitel des Tröglitzer Bürgermeisters zu zitieren – brandgefährlich. Der demokratische Konsens, der die Bundesrepublik seit Jahrzehnten zusammenhält, gerät mehr und mehr ins Wanken.

Die Reaktion der demokratischen Parteien kann jedoch nicht darin liegen, sich anzubiedern und Verständnis zu haben, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun. Hinzuhören, ehrlich zu erklären, wie politische Entscheidungen zustande kommen und vor allem Haltung zu zeigen – das ist das Gebot der Stunde. Denn verlieren die Menschen das Vertrauen, sind sie empfänglich für die Parolen der Menschenjäger. Selbst körperliche Übergriffe werden dann hingenommen oder gar gut geheißen. Das nächste Chemnitz ist dann nur eine Frage der Zeit.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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