Soziale Politik

Bürgergeld: „Die größte sozialpolitische Reform der letzten 20 Jahre“

Zum 1. Januar 2023 soll das Bürgergeld das bisherige Hartz-IV-System ersetzen. Im Interview sagt SPD-Sozialpolitikerin Annika Klose, was sich dadurch ändert und warum höhere Regelsätze unbedingt notwendig sind.
von Kai Doering · 24. August 2022
Mit dem Bürgergeld schaffen wir einen Sozialstaat, der einfach zugänglich und unbürokratischer ist, sagt SPD-Sozialpolitikerin Annika Klose.
Mit dem Bürgergeld schaffen wir einen Sozialstaat, der einfach zugänglich und unbürokratischer ist, sagt SPD-Sozialpolitikerin Annika Klose.

Die SPD bezeichnet das geplante Bürgergeld als das Ende von Hartz IV. Andere sagen, es sei nur ein neuer Name für das bestehende System. Was stimmt?

Wer sagt, das Bürgergeld sei nur ein neuer Name für Hartz IV, hat sich offensichtlich mit dem Konzept nicht auseinandergesetzt. Mit dem Bürgergeld lassen wir das bestehende System hinter uns. Es ist das Ende von Hartz IV. Es findet ein Kulturwandel unserer Sozialpolitik statt, den man gar nicht hoch genug bewerten kann. Wir erleben gerade die größte sozialpolitische Reform der letzten 20 Jahre.

Woran machen Sie das fest?

Mit dem Bürgergeld schaffen wir einen Sozialstaat, der einfach zugänglich und unbürokratischer ist. Einen Sozialstaat, der den Menschen unter die Arme greift, wenn sie ihn brauchen und der ihnen auf Augenhöhe und mit Respekt begegnet. All das ist im Bürgergeld angelegt. Viele Kritikpunkte, die es am Hartz-IV-System immer gab, werden damit beseitigt.

Wie drückt sich dieses neue Verständnis aus?

Ein ganz wesentlicher Aspekt ist die Zugänglichkeit der Leistungen. Im bestehenden System haben viele Menschen Angst, ins Arbeitslosengeld II, das sogenannte Hartz IV, abzurutschen. Viele schämen sich auch, die Leistung beantragen zu müssen, mit allem, was damit verbunden ist. Damit macht das Bürgergeld Schluss. Wir führen eine zweijährige Karenzzeit ein, in der weder das Vermögen noch die Wohnung angetastet wird. Auch seine Rücklagen für die Rente muss niemand antasten. So werden Ängste, das Bürgergeld überhaupt zu beantragen, abgebaut.

Und wie macht sich die Augenhöhe bemerkbar?

Unser Ziel ist, dass während des gesamten Prozesses – also von der Beantragung des Bürgergelds bis zur Vermittlung in eine Stelle – verständlich und ohne Beamtendeutsch kommuniziert wird. Rechtshilfebelehrungen gehörten ebenso wenig in das erste Anschreiben wie die Androhung von Sanktionen. Am besten drückt die Augenhöhe aber aus, dass wir die Eingliederungsvereinbarung abschaffen. Stattdessen halten künftig in einem Kooperationsplan Vermittler und Arbeitsuchende im Konsens die individuellen Angebote und Maßnahmen fest, die notwendig sind, um die vorhandenen Stärken weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt stehen dabei die zu vermittelnde Person und ihre Bedürfnisse und nicht die Jobvermittlung um jeden Preis.

Trotzdem soll die Möglichkeit für Sanktionen nicht vollständig abgeschafft werden. Warum?

Die Sanktionen werden deutlich reduziert und dürfen z.B. nicht mehr die Kosten der Unterkunft betreffen. Auch härtere Sanktionen für unter 25-Jährige werden abgeschafft. Die Leistungen dürfen auch nur um maximal 30 Prozent gekürzt werden. Außerdem werden sie aufgehoben, wenn man wieder mit macht. Diesen Kompromiss, den wir in der Ampel gefunden haben, finde ich in Ordnung – auch wenn ich mir persönlich eine vollständige Abschaffung der Sanktionen gewünscht hätte. Klar ist aber, dass Sanktionen nur als letztes Mittel genutzt werden sollen. Schon vor dem Sanktionsmoratorium der Bundesregierung wurden übrigens nur drei Prozent aller ALG-II-Bezieher sanktioniert. Viel schlimmer finde ich, dass im Moment unter jedem Brief vom Jobcenter eine Androhung von Sanktionen steht. Das beenden wir.

Kritiker*innen bemängeln deshalb, mit der weitgehenden Abschaffung der Sanktionen gebe es kaum noch Anreize, sich in eine Arbeit vermitteln zu lassen. Wie sehen Sie das?

Diese Kritik kann ich nicht verstehen. Die Mitwirkungspflichten bleiben ja erhalten. Der gesamte Prozess ist darauf ausgerichtet, gemeinsam zu überlegen, wie die betreffende Person nachhaltig in Arbeit vermittelt werden kann. Hinter der Kritik steht ein Menschenbild, das ich nicht teile: dass jemand dann eine Stelle annimmt, wenn der Druck nur groß genug ist. Der Ansatz des Bürgergeld ist ein anderer. Wir wollen positive Anreize setzen, mit denen die Menschen motiviert werden, mitzumachen. Der Weiterbildungsbonus ist so ein Anreiz, mit dem Arbeitssuchende etwa unterstützt werden, einen Abschluss nachzuholen. Die Menschen sollen einen Job finden, der zu ihnen passt. Das ist viel wirksamer als die Androhung von Strafen.

Strittig ist noch die Höhe der künftigen Regelsätze des Bürgergelds. Arbeitsminister Hubertus Heil will sie deutlich erhöhen, die FDP ist dagegen. Wie geht die Sache aus?

Die Erhöhung der Regelsätze ist für mich ein harter Punkt. Gerade in einer Zeit drastisch steigender Preise dürfen wir die Menschen nicht alleine lassen. Aber auch vorher schon war soziale Teilhabe für viele Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht möglich. Das werden wir ändern und mit dem Bürgergeld eine Sozialleistung schaffen, die Lebensrisiken absichert und vor Armut schützt. Das Bundesverfassungsgericht hat das 2019 auch deutlich gemacht. Als Sozialdemokraten werden wir deshalb kämpferisch in die Auseinandersetzung mit der FDP um höhere Regelsätze gehen. Darüber hinaus wollen wir 2024 die Kindergrundsicherung einführen, um Kinder und ihre Familien vor Armut zu schützen.

Für die SPD ist das Thema Hartz IV ein besonders schmerzhaftes. Wird die Einführung des Bürgergelds diese lange klaffende Wunde heilen?

Ja, davon bin ich überzeugt. Wir sehen die vielen Fehlentwicklungen, die die Hartz-Reformen genommen haben. In vielen Fällen haben wir bereits gegengesteuert, z.B. mit dem Mindestlohn, der jetzt im Oktober auch deutlich erhöht wird. Mit dem Sozialstaatskonzept hat die SPD 2019 eine Abkehr von Hartz IV vorgelegt und beseitigt nun die letzten Fehler. Mit der Einführung des Bürgergelds können wir Sozialdemokraten wieder erhobenen Hauptes über unsere Sozialpolitik sprechen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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