Nach dem Anschlag: So rückten die Menschen in Hanau zusammen
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Vor einem Jahr stand Hanau unter Schock. Am 19. Februar 2020 starben neun Menschen, sie wurden aus rassistischen Motiven ermordet. „Dieses schreckliche Attentat hat Hanau nachhaltig geprägt und wird auf alle Zeiten im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft verankert bleiben“, hat Oberbürgermeister Claus Kaminsky in einem Gastbeitrag geschrieben.
Kurz nach dem Anschlag des Attentäters Tobias R., der auch seine Mutter tötete, bevor er sich selbst umbrachte, wurde die „Initiative 19. Februar Hanau“ gegründet. Ein wichtiges Ziel: Die Namen der Opfer sollen nicht in Vergessenheit geraten. Die Initiative eröffnete darüber hinaus etwas später eine Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige des Anschlags sowie weitere Interessierte. Sie schafft einen Raum für Begegnungen. Der Name ist Programm: „140qm gegen das Vergessen“.
Obwohl es keinen Gerichtsprozess gibt, kämpfen die Angehörigen heute für eine lückenlose Aufklärung der Tat. Dabei ist auch der Vater des Attentäters in den Fokus gerückt, der Teilnehmer einer Mahnwache beleidigt haben soll. Gegen den Vater ermittelt mittlerweile die Staatsanwaltschaft in Hanau.
Opferbeauftragter als Kontakt für Angehörige
Die Stadt hat als Opferbeauftragten Andreas Jäger ernannt, der den Kontakt zu den Angehörigen hält und die Schnittstelle zu Behörden und Ministerien bildet. Er ist Hanauer, mit der Stadt verwurzelt. Als er zuerst von den schlimmen Nachrichten hörte, waren seine ersten Gedanken: „Hier bei uns? In Hanau werden doch keine Menschen erschossen.“ Im Juni 2020 hat Oberbürgermeister Claus Kaminsky gefragt, ob er sich die Rolle als Ansprechpartner und Vermittler zutraue, erzählt Jäger auf einer Pressekonferenz des Mediendienstes Integration. „Eine komplexe Aufgabe, hochemotional, dafür gibt es kein Handbuch.“
Für Matthias Quent, Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, ist es wichtig, die Perspektive der Opfer zu sehen, nicht den Täter in den Mittelpunkt zu stellen, als „Zeichen der Solidarisierung“. Natürlich habe die Tat auch eine politische und gesellschaftliche Dimension, die über reine Anteilnahme und Empathie mit den Angehörigen hinaus gehe, ist Quent überzeugt. „Das umfasst auch die Frage, wie es dazu kommen konnte. Was in der Gesellschaft hat dazu geführt, dass der Attentäter eine rassistische Brille trägt?“
Quent: Hanau ein Fall in einer Reihe
Hanau reiht sich ein in eine Reihe von Fällen tödlicher rassistischer Gewalt in Deutschland in den vergangenen Monaten und Jahren. Mölln und Halle seien hier beispielhaft genannt. Quent wirft einen Blick sogar Jahrzehnte zurück: „Das Oktoberfestattentat vor 40 Jahren wurde nicht aufgeklärt. Viele Fragen sind offen.“ Mittlerweile vernetzen sich sogar die Angehörigen der Opfer, um sich gegenseitig zu stützen: Ein Jahr nach dem terroristischen Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle im Oktober 2020 fand in Berlin ein gemeinsames „Festival of Resiliance“ statt, ein Festival der Widerstandsfähigkeit.
Nach Hanau sah sich auch die Politik zum Handeln veranlasst: Bundesinnenminister Horst Seehofer hat nach dem Anschlag einen „Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ berufen, der im September die Arbeit aufgenommen hat. Die Bundesregierung kündigte zudem im November mit 89 Maßnahmen einen umfangreichen Katalog im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus an und will dafür bis zum Jahr 2024 mehr als eine Milliarde Euro bereitstellen.
19. Februar soll Gedenktag bleiben
Die Stadtspitze zeigt klare Haltung und möchte das Gedenken weiter fortsetzen. Auch aus der Stadtgesellschaft heraus gibt es viele Aktionen am 19. Februar. Kranzniederlegungen, eine eigene Internetseite als „digitales Denkmal“, Gedenkfeiern, interreligiöses Gedenken der örtlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften.
„Hanau ist eine weltoffene Stadt. Dass die Bürgerinnen und Bürger, Vereine, Firmen, Schulen, Kirchen und viele weitere den Gedenktag nutzen, um sichtbar ihrer Anteilnahme und Solidarität Ausdruck zu verleihen, macht mich stolz“, sagt Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky.
Für den Jahrestag, der auch dauerhaft ein Tag des Gedenkens bleiben soll, hat er zudem stadtweit Trauerbeflaggung für die städtischen Gebäude angeordnet. Das große Mahnmal für die Opfer soll im kommenden Jahr – zum zweiten Jahrestag – fertig sein. Mehr als hundert Künstler aus aller Welt haben sich schon beworben.
ist Leitende Redakteurin beim Vorwärts-Verlag und verantwortlich für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.