Geschichte

Vor 75 Jahren: Der Kampf um die Führung der wiederentstehenden SPD

Im Frühjahr 1945 bemühen sich Kurt Schumacher in Hannover und Otto Grotewohl in Berlin um die Wiederauferstehung der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Ende ist klar: Es wird zwei Wege geben – mit unterschiedlichem Ausgang.
von Klaus Wettig · 11. Mai 2020
Einer, der die Massen bewegt: Kurt Schumacher war die treibende Kraft hinter der SPD-Wiedergründung in den Westzonen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Einer, der die Massen bewegt: Kurt Schumacher war die treibende Kraft hinter der SPD-Wiedergründung in den Westzonen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die kämpfenden Einheiten der Amerikaner und der Briten hatten erst wenige Tage die eroberten Regionen in Richtung Thüringen, Harz, Elbe und Schleswig-Holstein verlassen und die Militärverwaltungen die neue Ordnung nur in Ansätzen verkündet, da begann die schrittweise Wiedergründung der SPD. In ihren früheren Zentren trafen Sozialdemokraten zusammen, um über die politische Zukunft zu beraten. Schon nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 hatte es Kontakte gegeben, denn das Kriegsende war nun absehbar.

Die Folgen des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 unterbrachen noch einmal die Kontaktaufnahme, als in der „Aktion Gitter“ tausende ehemaliger sozialdemokratischer Funktionäre verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Neuengamme und Sachsenhausen eingesperrt wurden. Als sie im Herbst schrittweise in Freiheit kamen, standen die Alliierten im Osten und Westen nicht weit von den deutschen Grenzen. Das Kriegsende war noch näher gerückt.

Die sozialdemokratische Idee lebt

Die Frühgeschichte der SPD-Wiedergründung zeigt, dass der sozialdemokratische Zusammenhalt in den zwölf Jahren Nazi-Diktatur nicht zerstört werden konnte. Die Partei war verboten, ihre Vermögen und Häuser enteignet – jetzt auch kriegszerstört, Tausende mussten aus Deutschland vor den Verfolgungen fliehen, Zehntausende hatten Polizeiaufsicht, Zuchthaus und KZ-Haft erlitten, dabei ihre Gesundheit verloren oder gar nicht wenige hatten die Nazis ermordet. Trotz aller Unterdrückung überlebte die sozialdemokratische Idee in ihren früheren Mitgliedern.

Dies war durchaus nicht selbstverständlich. Die SPD-Führung unterschätzte 1933 das zielgerichtete Vorgehen und die Brutalität der startenden NS-Diktatur, die ihre mit dem Ermächtigungsgesetz gewonnenen Möglichkeiten nutzte, um die demokratischen Parteien und Organisationen auszuschalten. Mangelhafte Vorbereitung auf eine mögliche Illegalität erleichterte dem NS-Staat die Zerschlagung der SPD und der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Am 26. April konnte in einer Reichskonferenz der Parteivorstand noch umgebildet und für das Exil vorbereitet werden. Der junge Mitarbeiter Alfred Nau sammelte bei den Bezirken vorhandene Geldbestände ein und schaffte sie ins Ausland. Dieses Vermögen sicherte über Jahre die Arbeit des SPD-Exilvorstandes.

Die Gewerkschaften holten überraschend schon ins Ausland transferierte Gelder zurück, weil sie Kooperation mit den Nazis erwarteten. Die Erklärung des 1. Mai zum Staatsfeiertag bestärkte sie in dieser Haltung. Am 2. Mai folgte der Schlag des NS-Staates gegen ihre Organisation mit der Besetzung der Partei- und Gewerkschaftshäuser, der Plünderung und Zerstörung ihrer Büros, der Verhaftung ihrer Angestellten. Erste als wild bezeichnete Konzentrationslager, die sich mit Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Regimegegnern füllten, gab es seit Mitte März. Am 22. Juni folgte das Verbot der SPD und schließlich die Enteignung ihres Vermögens.

Der sozialdemokratische Zusammenhalt blieb erhalten

Obwohl der sozialdemokratische Zusammenhalt vielerorts die Sammlung für eine Wiedergründung begünstigte, war der Anfang 1945/46 von außerordentlichen Schwierigkeiten begleitet. Im Vergleich mit der Zeit des Sozialistengesetzes (1878 bis 1890) besaß die SPD kein politisch-organisatorisches Zentrum im Reich. Die Nazis zerstörten jeden Ansatz und die Möglichkeiten des Exil-Vorstandes Sopade, im Reich zu wirken, schwanden von Jahr zu Jahr, mit Beginn des Krieges 1939 erloschen sie.

Der sozialdemokratische Zusammenhalt blieb nach dem Untergang 1933 erhalten, sogar mit aktivem Widerstand, bis die systematische Verfolgung durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) Mitte der 1930er Jahre diese Gruppen zerschlug. Auslöschen konnte sie den sozialdemokratischen Zusammenhalt jedoch nicht: nicht in den Betrieben und den Wohnviertelen. Man wusste voneinander, man half einander – besonders den von Haft betroffenen Familien, man tauschte Nachrichten aus, man wartete auf das Kriegsende und das Ende der NS-Herrschaft.

Treffen unter schwierigen Bedingungen

Die ersten Zusammenkünfte in den befreiten Gebieten und schließlich in den Besatzungszonen litten unter schwierigen Rahmenbedingungen, die sich 1945 nur langsam besserten: Ausgangssperren, Verbote zum Verlassen des Wohnortes, Ausfall der Post, Ausfall der Bahn, fehlende Versammlungslokale, Genehmigungspflicht für Versammlungen und Drucksachen. Und die Militärregierungen verzögerten mit ihren Genehmigungen die Neubildung von Parteien, zwar engagierten sie unbelastete Politiker der Weimarer Zeit für den Aufbau der neuen Verwaltungen, doch die Parteibildung begleiteten sie ablehnend. Eine Ausnahme war nur die Sowjetische Militär-Administration (SMAD), die schon im Juni nach der KPD auch die SPD in ihrer Besatzungszone (SBZ) zuließ.

Die 12-jährige Dauer des Verbots mit Verfolgung, Exil, Krieg, Vertreibung aus dem Osten hatte die aktiven Kader der SPD stark reduziert, sodass ein einfaches Anknüpfen an die Zeit vor 1933 ausfiel. Von den 341 SPD-Reichstagsabgeordneten aus dem Jahr 1933 waren 120 verstorben. Fast ein Viertel in der KZ-Haft oder durch Todesurteile. Von den 65 Abgeordneten, die ins Exil geflohen waren, kehrten nur 24 zurück. Die meisten erst in den Jahren nach der Wiedergründung, da die Besatzungsmächte zunächst keine Visa für die Rückkehr erteilten.

Schumacher und Grotewohl beleben die SPD wieder

Im historischen, organisationsstarken SPD-Bezirk Hannover war die Führungsgruppe der Zeit vor 1933 nahezu verschwunden. Einige der Wiedergründer waren durch die Verfolgungen und den Krieg an Orte verschlagen, die nicht zu ihrem früheren Wirkungskreis gehörten. Das gilt für Otto Grotewohl in Berlin, der bis 1933 Reichstagsabgeordneter in Braunschweig gewesen war und Kurt Schumacher, der bis 1933 in Stuttgart als Redakteur und Abgeordneter gearbeitet hatte.

Beide ergriffen an ihren neuen Wohnorten die Initiative zur Wiedergründung der SPD. Grotewohl in Berlin, wo der sozialdemokratische Zusammenhalt intakt geblieben war und die SMAD die Parteigründung förderte. Schumacher in Hannover, der keine Unterstützung durch die amerikanische, später britische Besatzungsmacht erhielt.

Trotz allem war Hannover ein günstiger Standort für die Wiedergründung. In Hannover hatte die Sozialistische Front lange Widerstand geleistet und sie bewahrte nach ihrer Zerschlagung 1936 ihren Zusammenhalt. Dort registrierte man früh, dass der Reichstagsabgeordnete Schumacher 1943 nach zehnjähriger KZ-Haft Hannover als Wohnort zugewiesen bekommen hatte. Dort gab es eine größere Zahl von jüngeren Sozialdemokraten, die an der Wiedergründung mitarbeiten wollten.

Trotz der Zurückhaltung der Besatzungsbehörden konnte schon bald das bombengeschädigte Parteihaus in der Odeonstraße als neues Zentrum hergerichtet werden. Im Parteiaufbau über Hannover hinaus erwies sich auch die letzte KZ-Haft Schumachers in Neuengamme 1944 als Informationsgewinn, denn er lernte dort zahlreiche ehemalige SPD-Funktionäre der Provinz Hannover kennen. Beim langsamen Rückkehren in die Normalität erwies sich Hannover auch als verkehrsgünstiger Standort in der Britischen Besatzungszone, als nach dem Regierungsantritt der siegreichen Labour Party die Haltung der Militärregierung gegenüber den SPD-Gründungen freundlicher wurde.

Der Ortsverein Hannover wird gegründet

Nach den Treffen im April kam es dann am 5. Mai in Hannover zur ersten Versammlung, die den Ortsverein Hannover der SPD gründete: Vorsitzender Kurt Schumacher. Auch an weiteren Orten in der preußischen Provinz Hannover sowie in den Ländern Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe entstand die SPD wieder, jedoch begleitet von verzögernden Genehmigungen und dem Verbot von überörtlichen Zusammenschlüssen.

In diesem mühsamen Gründungsprozess setzte sich bald der Anspruch des Büros Dr. Schumacher durch, für die gesamte Britische Zone zu handeln, wenn möglich auch für die Amerikanische und Französische Besatzungszone. Auf keinen Fall war Kurt Schumacher und das sich um ihn langsam sammelnde Sekretariat bereit, einen Führungsanspruch des Zentralausschusses um Otto Grotewohl zu akzeptieren. Schumacher sah früh die wachsende Abhängigkeit des Zentralausschusses von den politischen Interessen der Sowjetunion und sperrte sich gegen alle Versuche der Zusammenarbeit mit der ebenfalls wiederentstehenden KPD, die er als Lakaien Stalins ansah.

Wennigsen wird zu Wegscheide

Einen weiteren Erfolg bei seinem Kampf um die Führung der Wiedergründung erzielte Schumacher mit der Delegiertenkonferenz mit 90 Vertretern wiedergegründeter SPD-Ortsvereine der Provinz Hannover. Die Konferenz am 9. September 1945 in Hemmingen bei Hannover wählte einen vorläufigen Vorstand, an dessen Spitze Schumacher stand. Inzwischen hatten weitere 14 provisorische Parteibezirke ihre Zustimmung zu einer zentralen Parteikonferenz signalisiert, die das Büro Dr. Schumacher vorbereiten sollte.

Die Bestätigung des vorläufigen Führungsanspruchs von Schumacher und seinen Mitstreitern eröffnete den Weg zur Wennigser Konferenz vom 5. bis 7. Oktober, wo Vertreter aus den drei Westzonen, aus dem Zentralausschuss und vom Londoner Exilvorstand zusammentrafen, um die weitere Linie festzulegen. Nach Wennigsen war klar, es würde zwei Wege geben: Das Büro Dr. Schumacher bereitet die Gründung einer Gesamtpartei für die Westzonen vor; der Zentralausschuss um Grotewohl verfolgt einen eigenen Weg für die Sowjetisch besetzte Zone.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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