Geschichte

Vor 150 Jahren: Als der SDAP-Vorstand in Handschellen abgeführt wurde

Weil sie zum Frieden mit Frankreich aufrief, wurde am 9. September 1870 die komplette Führung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) verhaftet. Die Frage von Krieg und Frieden sollte die Sozialdemokratie noch Jahrzehnte beschäftigen.
von · 8. September 2020
Deutsch-französischer Krieg 1870/71: Der Aufruf zum Frieden wurde der SDAP-Führung zum Verhängnis.
Deutsch-französischer Krieg 1870/71: Der Aufruf zum Frieden wurde der SDAP-Führung zum Verhängnis.

Wenigstens kamen die Polizisten nicht mitten in der Nacht. Aber das war auch die einzige Rücksichtnahme der Staatsgewalt, als sie am 9. September 1870 die Führung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) verhaftete und „in Ketten“ abführte.

„Tatort“ war nicht Berlin, sondern Braunschweig und das unmittelbar benachbarte Wolfenbüttel. Dort hatte seit der Gründung der Partei 1869 in Eisenach der Vorstand der SDAP seinen Sitz. Ihm gehörten Carl Kühn (1. Vorsitzender), Samuel Spier (2. Vorsitzender), Wilhelm Bracke (Kassierer), Leonhard von Bonhorst (Schriftführer) und Heinrich Gralle (Beisitzer) an. Diese fünf ließ der Militärbefehlshaber verhaften und in Handschellen sofort nach Ostpreußen verbringen. Die prominentesten Politiker der „Eisenacher“, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, blieben vorerst auf freiem Fuß, denn sie waren nicht Mitglieder des Vorstands.

Das Friedensmanifest der SDAP

Das „Verbrechen“ der Vorständler bestand im Aufruf zum Frieden. Der deutsch-französische Krieg, begonnen Ende Juli 1870, hatte mit der vernichtenden Niederlage der französischen Armee bei Sedan am 2. September eine entscheidende Wendung genommen; Kaiser Napoleon III. war in deutsche Gefangenschaft geraten. In Paris wurde die Republik ausgerufen. 24 Stunden später, am 5. September, erschien das Friedensmanifest der SDAP, das einen „ehrenvollen Frieden“ verlangte und vor der Annexion Elsass-Lothringens durch Deutschland warnte.

Pazifistische Erwägungen standen ebenso wenig hinter dem Manifest wie eine antinationale Haltung. Ganz im Gegenteil: „Solange die napoleonischen Söldnerschaaren Deutschland bedrohten, war es unsere Pflicht, als Deutsche den Verteidigungskrieg, den Krieg um die Unabhängigkeit Deutschlands zu führen.“ Die Braunschweiger bekannten sich sogar dazu, dass man zwecks eigener Verteidigung „den Feind angreife“, ihn zum Frieden zwingen dürfe. „Daher mußten wir den deutschen Heeren den Sieg wünschen, als die unmittelbare Bedrohung der deutschen Grenzen beseitigt und unser braves Heer mitten in Frankreich hineingedrungen war …. Und gewiß können wir stolz sein, einem solchen Heldenvolke anzugehören.“ Aber nun müsse Schluss sein. Nicht das französische Volk, sondern Napoleon III. habe den Krieg erklärt. Das deutsche Volk dürfe nicht „einem großen Brudervolke den Fuß auf den Nacken setzen.“

Der Partei droht die Spaltung

Der Braunschweiger Aufruf stieß in der ganzen Partei auf einhellige Zustimmung. Aber in den Monaten zuvor hatte die SDAP vor der Spaltung gestanden. Als der Norddeutsche Reichstag im Juli über die Kriegskredite abstimmte, enthielten sich August Bebel und Wilhelm Liebknecht der Stimme. Bebel hatte mit Mühen seinen Mitstreiter davon abhalten können, die Kriegskredite rundweg abzulehnen. Sie wollten der preußischen Regierung nicht den Rücken stärken für einen dynastischen Krieg, auch wenn sie dem französischen Kaiser eine „frevelhafte und verbrecherische Politik vorwarfen“. Bebel und Liebknecht stellten sich damit gegen den „Taumel nationaler Begeisterung“ (so der Historiker Georg Eckert), der das deutsche Volk erfasst hatte. Das alleine schon bedeutete eine Belastung für die junge Partei. Noch schlimmer war, dass der Vorstand und die beiden Altmeister der Bewegung, Friedrich Engels und Karl Marx, den Abgeordneten vehement widersprachen.

Die SDAP-Führung erklärte, „mit Bedauern … den Verteidigungskrieg als notwendiges Übel anerkennen“ zu müssen. Man verstehe nicht, so die Braunschweiger, „daß Jemand seines berechtigten internationalen Standpunktes halber den nationalen verleugnen will“. Die beiden Abgeordneten hätten mit ihrem Abstimmungsverhalten die Partei den „Herzen des Volkes … entfremdet.“ Ins Visier des Vorstands geriet insbesondere Wilhelm Liebknecht. Entweder revidiere er seine Haltung oder er müsse das Reichstagsmandat niederlegen. Von „furchtbarer Schädigung der Partei“ war die Rede. Der so Angegriffene wiederum spielte mit dem Gedanken, nun in die USA auszuwandern. Und Bebel drohte, die Mitarbeit am Parteiblatt „Volksstaat“ einzustellen. Wilhelm Bracke, der politische Kopf des Vorstands und – als vermögender Getreidekaufmann – wichtige Finanzier der Partei, wiederum wollte alle Ämter niederlegen, wenn sich Bebel und Liebknecht nicht fügten.

Der deutsche Sieg führt die SDAP wieder zusammen

Engels und Marx stärkten Bracke und den Seinen den Rücken. Es handele sich von deutscher Seite (noch) um einen berechtigten Verteidigungskrieg. Eine Niederlage Frankreichs werde die dortige Kaiserherrschaft beenden, die Republik bringen und der Arbeiterbewegung mehr Freiheiten. In Deutschland werde der Sieg der eigenen Truppen die nationale Frage endgültig lösen; die Sozialdemokratie könne sich dann viel effektiver organisieren und die soziale Frage in den Vordergrund stellen. Sobald aber der Krieg auf deutscher Seite den defensiven Charakter verlöre, müsste die Arbeiterbewegung ihr Haupt erheben und einen ehrenvollen Frieden ohne Annexionen fordern.

Der Sieg der deutschen Truppen und das Ende der Herrschaft von Napoleon III. führten die zerstrittenen Lager der SDAP wieder zusammen. Der Vorstand forderte das sofortige Ende des Krieges und einen Frieden ohne Grenzveränderungen. Die Verhaftung folgte auf dem Fuße. Da im Dezember 1870 auch Bebel und Liebknecht ins Gefängnis wanderten, saß die gesamte Führung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hinter Gittern, als am 18. Januar 1871 in Versailles Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser proklamiert wurde. Nichts charakterisiert die Stellung der Sozialdemokratie im und zum neuen Reich deutlicher als dieser Umstand. Immerhin wurden die Braunschweiger 1872 in zweiter Instanz von den Hauptvorwürfen freigesprochen und erreichten sogar eine Haftentschädigung.

Gegen Angriffskriege und Annexionen

Der Aufruf der (noch) kleinen Partei vom 5. September beeindruckte die herrschenden Kreise nicht im Geringsten. Deutschland annektierte Elsass und Lothringen, gegen den Willen der dort lebenden Menschen. Die Folgen dieses Schrittes hatten Engels und Marx im Spätsommer 1870 prophezeit: „Nehmen sie Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen.“

Die Debatten von 1870 prägten über Jahrzehnte hinweg die Haltung der deutschen Sozialdemokratie zum Krieg. Sie bejahte die Landesverteidigung, lehnte aber Angriffskriege und Annexionsgelüste ab. In der sozialdemokratischen Vorstellungswelt stand der erwartete Feind im Osten: das zaristische Russland. Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, die größte und vermeintlich stärkste der Welt, vor dem Hort der Reaktion zu schützen, war Konsens. Das motivierte die Mehrheit der SPD-Fraktion, am 2. August 1914 den Kriegskrediten zuzustimmen. Man war der geschickten Darstellung der Reichsregierung erlegen, die Deutschland als den Angegriffenen, Russland als den Aggressor darstellte. „Der Entschluß der Sozialdemokraten, an der Verteidigung Deutschlands mitzuwirken, entsprach der marxistischen, sozialistischen Tradition.“ (Arthur Rosenberg)

Die Lehren von 1870 hätten die SPD vor der Spaltung bewahrt

Der Bruch mit der Linie von 1870 erfolgte, als in den Monaten und Jahren danach, trotz der allmählich bekannt werdenden deutschen Annexionspläne, die Kriegskredite immer wieder die Zustimmung der Mehrzahl der SPD-Abgeordneten erhielten. Die Lehren von 1870 zu beherzigen, hätte die deutsche Arbeiterbewegung vor der Spaltung in Kriegsbefürworter und -gegner, in USPD und MSPD bewahrt. Unvermeidlich hingegen war die zweite Spaltung (1919/20): die in Anhänger der Demokratie (MSPD und der kleinere Teil der USPD) und Befürworter einer Diktatur à la Räte-Russland (KPD/Spartakus und die knappe Mehrheit der USPD).

Auch eine zweite Erkenntnis von 1870 ist es wert, erinnert zu werden: Weder der rein nationalistische noch der rein internationalistische Standpunkt war der allein richtige für die Sozialdemokratie. Nicht nur in Debatten über Krieg und Frieden klingt der Ratschlag von Wilhelm Bracke aus dem Juli 1870 aktuell: „Nationalgefühl“, „Vaterlandsliebe“ (Bracke meinte damit Heimatliebe, denn noch war man Badener, Bayer, Braunschweiger, Preuße) und „Kosmopolitismus“ – „Alle Drei Dinge sind berechtigt und es muß eben die nöthige Harmonie zwischen ihnen hergestellt werden.“

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