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Nach 13 Jahren Rutte: Worum es bei der Wahl in den Niederlanden geht

Mit der Wahl am Mittwoch endet in den Niederlanden eine Ära. Nach 13 Jahren wird Ministerpräsident Rutte abgelöst. Das Vertrauen in die Politik hat in dieser Zeit schweren Schaden genommen hat. Es bahnt sich ein Aufstand der politischen Mitte an.
von René Cuperus · 20. November 2023
Wohin geht er? Nach 13 Jahren wird Mark Rutte das Amt des niederländischen Ministerpräsidenten abgeben.
Wohin geht er? Nach 13 Jahren wird Mark Rutte das Amt des niederländischen Ministerpräsidenten abgeben.

Die Niederlande sind ein Paradebeispiel für ein fragmentiertes parteipolitisches System der Nachkriegszeit, mit einer Implosion der traditionellen Volksparteien, der Christdemokratie und der Sozialdemokratie. Bei der nun anstehenden Parlamentswahl sehen wir zum ersten Mal eine bedeutende Gegenbewegung: eine spektakuläre Neuordnung der politischen Mitte gegenüber den Rändern.

Eine neue Partei könnte stärkste Kraft werden

Ein großes Thema in den Niederlanden ist die Vertrauenskrise zwischen Bürger*innen und Staat. Außergewöhnlich und überraschend ist, dass wir bei dieser Wahl einen Aufstand der politischen Mitte erleben. Soziales Unbehagen und politisches Misstrauen äußern sich nicht an den Rändern, nicht im Rechtspopulismus, sondern in der politischen Mitte. Durch eine neue Partei, die man ein konstruktives Anti-Establishment nennen könnte.

Diese Partei nennt sich Neuer Gesellschaftsvertrag (NSC), wird von Pieter Omtzigt, einem aus der Christdemokratie ausgestoßenen Dissidenten, angeführt und könnte aus dem Nichts zur größten Partei werden und den neuen niederländischen Ministerpräsidenten stellen.

Die vergessenen Regionen der Niederlande

Die bevorstehenden Wahlen könnten auch als eine Revolte der ländlichen Regionen gegen die Arroganz der Großstädte gesehen werden. Nicht nur der NSC, sondern auch eine andere neue Partei, die BBB (Bauer Bürger Bewegung), haben ihre Wurzeln in der Peripherie der Niederlande. Diese neuen Parteien repräsentieren die vergessenen Regionen der Niederlande. Sie setzen sich für ländliche Gebiete ein, die in der neoliberalen Ära in Vergessenheit geraten sind und die durch den Klimawandel stark unter Druck geraten sind.  

Aus diesem Grund könnte man diese Wahl drittens auch eine Klimawahl nennen. Mit Frans Timmermans, dem früheren Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, der jetzt Listenführer der gemeinsamen Liste von Grünen und Sozialdemokraten ist. Timmermans ist der Urheber des europäischen „Green Deals“ und wird auch „Der grüne Papst von Brüssel“ genannt. Er ist Kandidat in einem Land der Bauernproteste gegen die Stickstoffpolitik der Europäischen Union, gegen die Parteien wie die BBB sich vehement aussprechen.

Großer Konsens in der Migrationsfrage

Die Parlamentswahl in den Niederlanden ist aber auch eine Migrationswahl. Das letzte Rutte-Kabinett scheiterte an der Asylpolitik, dem brisantesten Thema der Wahlen, aber auch dem wichtigsten Thema, um das es nach Meinung der Wähler*innen auch bei dieser Wahl gehen sollte. Die Niederlande haben im vergangenen Jahr 220.000 Migrant*innen aufgenommen (eine Mischung aus Arbeitsmigration, Asylmigration und Studienmigration). Diese enorme Zahl (wir haben auch mehr als 100.000 ukrainische Geflüchtete aufgenommen) übt einen enormen Druck auf die staatlichen und öffentlichen Dienstleistungen aus. Vor allem der Wohnungsmarkt ist völlig aus den Fugen geraten. Für junge Menschen gibt es in den Städten fast keine bezahlbaren Wohnungen mehr.

Es gibt gerade einen großen Konsens, fast von ganz links bis ganz rechts, dass die Migration kontrolliert werden muss. Die Menschen in den Niederlanden haben das Gefühl, dass die Migration mit uns geschieht. Dass sie nicht über uns hereinbrechen soll, sondern dass wir eine gewisse Kontrolle über sie haben sollten. Das ist die Hauptaufgabe für das nächste Kabinett, in welcher Zusammensetzung auch immer.

Drei mögliche Nachfolger*innen für Rutte

Der Ausgang diese Wahl ist völlig offen. Zum ersten Mal seit 13 Jahren gibt es Platz für einen anderen Ministerpräsidenten als Mark Rutte. Er war zusammen mit Victor Orban in Ungarn und Angela Merkel in Deutschland der am längsten amtierende europäische Regierungschef.

Das Vakuum, das Rutte hinterlassen hat, wird nicht leicht zu füllen sein, insbesondere in Brüssel. Selbst jetzt im Nahen Osten spielt er eine Rolle in der Gaza-Diplomatie. Er ist also bereits im Vorgriff auf sein wahrscheinliches neues Amt als Generalsekretär der NATO.

Wer sein*e Nachfolger*in wird - das ist die große offene Frage. Drei Parteien und drei Parteiführer*innen sind im Rennen:

  • Zuerst Dilan Yesilgoz, Justizministerin aus der konservativ-liberalen Partei von Mark Rutte. Sie könnte die erste weibliche Ministerpräsidentin der Niederlande werden. Sie kam als Kind mit ihren Eltern als kurdisch-türkische Geflüchtete in die Niederlande und tritt für eine harte Asyl- und Migrationspolitik nach Recht und Ordnung ein.
  • Dann haben wir Frans Timmermans. Er ist aufgrund seines internationalen Rufs und seiner Autorität für das Amt des Ministerpräsidenten geeignet, scheint allerdings in den Umfragen zurückzufallen. Jüngsten Umfragen zufolge lassen sich die Wähler*innen kaum von dem geopolitischen Flächenbrand, in dem wir uns gerade befinden, leiten, nicht vom Ukraine-Krieg und nicht vom Gaza-Krieg. Nationale, innenpolitische Themen (Migration, Wohnen, Lebensunterhalt) stehen im Mittelpunkt, und das Klima – das rot-grüne Ticket von Timmermans – kommt erst danach.
  • Und damit komme ich zum letzten und überraschendsten Kandidaten, Pieter Omtzigt. Das ist der Mann, der aus dem Nichts heraus eine Partei, NSC (Neuer Gesellschaftsvertrag), gegründet hat und mit ihr in den Umfragen weiter vorne liegt. Omtzigt ist ein Dissident der CDA (der Partei, die gerade völlig implodiert, da neben ihr eine Klon-Partei gegründet wurde), der schon immer auf Kriegsfuß stand, insbesondere mit Mark Rutte. Omtzigt ist der Anti-Rutte, der die liberale Ära Rutte beenden will. Seine Partei ist als Angriff und Wiedergutmachung für die neoliberalen und kulturliberalen Jahre zu sehen.

Omtzigt will weder links noch rechts sein

Omtzigts Programm lautet „Zeit für Wiederaufbau, für Reparatur“ und verspricht eine Wiederherstellung des rheinischen Modells, eine Rückkehr zum Gemeinschaftsdenken. Die Wiederbelebung der politischen Mitte, der christlichen Demokratie. Der Erfolg in den Umfragen rührt auch daher, dass der NSC eine sozialkonservative Korrektur der wirtschaftlich und kulturell liberalen Hegemonie der großstädtischen progressiven Oberschicht verspricht.

Pieter Omtzigt ist in den Niederlanden beliebt, populär und glaubwürdig, weil er wie ein Don Quichote Missstände in den Rutte-Regierungen aufzeigte und bekämpfte und dafür harsch ausgebremst wurde. Das macht ihn in den Augen der Wähler*innen von links bis rechts zum idealen Nachfolger der Ära Rutte.

Omtzigt will, dass der NSC die neue Partei der Mitte wird und er behauptet, weder links noch rechts zu sein. Das stimmt auch, wenn man sich das Programm anschaut. In der Frage der Existenzsicherung ist er eher links, mit weniger Steuern für niedrige und mittlere Einkommen, und einer höheren Vermögenssteuer für große Unternehmen. Beim Thema Migration dagegen ist er eher rechts zu verorten.

Auch eine Minderheitsregierung ist möglich

Ob Pieter Omtzigt Ministerpräsident wird, wenn der NSC die stärkste Partei wird, ist allerdings nicht sicher.  Lange hat er gesagt, er wolle nicht selbst Ministerpräsident werden. Zuletzt hat er diese Aussage aber relativiert. In jedem Fall will Omtzigt die Macht der Zweiten Kammer, des niederländischen Parlaments, gegenüber der Regierung stärken. Seine Hauptthemen sind eine bessere Regierungsführung, eine andere politische und Verwaltungskultur sowie die Sicherung des Lebensunterhalts für die Mittelschicht und der unteren Einkommensgruppen.

Wie es in den Niederlanden weitergeht, wird von den genauen Wahlergebnissen abhängen – nicht zuletzt die Frage, welche Koalitionen möglich sind und ob es einfach wird, eine Mehrheitsregierung zu bilden. Denn auch die Option einer Minderheitsregierung nach dem skandinavischen Modell steht im Raum. Die etablierten Parteien sind nicht dafür, Pieter Omtzigt aber schon. Gegen die gewachsene Macht des Premierministers unter Mark Rutte.

Konstruktive Anti-Establishment

So viel ist klar: Viele Menschen in den Niederlanden haben die Ära Rutte satt, auch die etablierte Politik im Allgemeinen. Unter Rutte wurde das Vertrauen zwischen Regierung und Bürger*innen zerstört. Ein großer Mangel an Vertrauen in die Politik ist entstanden, was teilweise auf Verwaltungsfehler und Skandale zurückzuführen ist. Aber die Menschen haben auch die radikale Protestpolitik der National-Populisten Geert Wilders und Thierry Baudet satt (obwohl Wilders Anti-Islam-Stimmung durch den neuen Israel-Krieg zuletzt erheblich an Auftrieb gewonnen hat; die jüngste Umfrage hat in den Niederlanden wie eine Bombe eingeschlagen. In dieser ist die radikal rechtspopulistische Partei von Geert Wilders (PVV) in die Höhe geschossen und konkurriert mit der VVD um die stärkste Partei.).

Die Wähler*innen suchen nach etwas, das zwischen Populisten und etablierter Politik liegt, und das ist das Geheimnis der Parteien von Omtzigt und der BBB: konstruktives Anti-Establishment. Diese Parteien wollen mitregieren, ja das Regieren sogar verbessern. Weniger technokratisch, mehr auf menschlicher Ebene.

Im Kern geht es bei dieser Wahl darum, dass das Selbstbild der Niederlande wiederhergestellt werden muss. Die Niederlande sehen sich, wie Deutschland und Österreich, als eines der am besten organisierten Länder der Welt, in dem es letztlich sozial gerecht zugeht. Dieses Selbstbild hat in den neoliberalen Jahrzehnten, in der Ära Rutte, vor allem durch die großen Skandale um Kindergeld und Gasförderung, Schaden genommen. Diese offenbarten gescheitertes Regieren und eine brutale Behandlung von Bürger*innen. Die Revolte von Pieter Omtzigt aus der politischen Mitte ist die Antwort darauf.

Wir brauchen stabile Demokratien

Meine Hauptsorge gilt der Instabilität der westlichen Demokratien. Stichworte: Polarisierung, Fragmentierung, Krise der Volksparteien, Populismus, Aufstieg rechtsradikaler Parteien und antiwestlicher Dschihadisten/gegen den Westen gerichteten Dschihadisten. Siehe Amerika und der Schatten von Trump. Siehe das polarisierte Frankreich, siehe Meloni in Italien, Orban in Ungarn, siehe den Vormarsch der AfD in Deutschland, der braunsten populistischen Partei Europas.

Gerade in einer Zeit der autokratischen Bedrohung brauchen wir stabile Demokratien. Wir brauchen nicht nur eine geopolitische, sondern auch eine innenpolitische Zeitenwende. Europa kann nur dann ein starker geopolitischer Akteur werden, wenn wir zuerst die nationale Demokratien stärken.

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag in der niederländischen Botschaft in Wien vor einem europäischen Publikum.

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René Cuperus

ist  Mitarbeiter des Clingendael- Internationales Instituts.

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