Kultur

Vom schönen Sprechen

von Dorle Gelbhaar · 4. Dezember 2009
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Sprache hat ihr Eigenleben in Ulla Hahns neuem Buch. Mittels des Hochdeutschen, dann des Lateinischen erschafft sich Hildegard Elisabeth Maria Palm neu - zunächst als Hilla, später als Petra Leonis. Dann endlich ist sie Studentin in Köln und wieder beginnt ein neues Leben.

Dat Kenk vun nem Prolete

Endete das erste Buch über dieses Mädchen damit, dass Hilla dem frustrierenden Alltag als Bürokaufmannsgehilfenlehrling entkommt, der sie schon dem Alkohol hatte verfallen lassen, so beginnt das zweite mit der Schilderung ihres Neubeginns als Abiturientin. Sie lebt fortan in zwei realen Welten, der ärmlichen Dondorfer, in der sie kein eigenes Zimmer hat und zum Lernen in den kalten Schuppen geht, und der Welt des Gymnasiums, die sich mit ihrer Bücherwelt vereint und sie in bisher unbekannte, besser situierte Kreise vorstoßen und das dortige Benehmen erkunden und erproben lässt.

Kunst- und Alltagssprache

In diesem Buch wird über die Bedeutung der literarischen Worte für die Entwicklung eines aus einfachen Verhältnissen kommenden Menschen philosophiert. Hillas Lebensweg ist das Beispiel, an dem sich dies nachvollziehen lässst. Und tatsächlich führt die Sprache selbst hier ein ganz elementares Eigenleben. Man kann sich an die Sprachmuster "anlehnen".

Schon der Klang des Rheinischen Platt, das Hillas Eltern sprechen, suggeriert, was alles sich damit verbindet. Ebenso ist es der Klang der gehobenen Dichtersprache wie des kirchlichen Lateins, der "Sprache Gottes", der Hilla von einem ganz anderen Leben als dem in Dondorfer Strenge und Armut träumen lässt. Den Grundstein dafür hat ihr Großvater gelegt, dessen Platt nicht an düstere Strenge, sondern an liebevolle Umarmungen gemahnt.

Enge, aber auch sicherer Urgrund

Als im Gymnasium nach dem gefragt wird, was während der Zeit des Faschismus mit den Menschen geschah - auch mit den und durch die nächsten Angehörigen - erlebt Hildegard eine wohltuende Überraschung. Ihre Familie hat sich menschlich verhalten. Die Mutter versuchte, ihrer jüdischen Freundin Lenchen das Leben zu erleichtern. Die Großmutter versteckte und pflegte einen jüdischen Jungen gesund, den sie - fürchterlich zusammengeschlagen - im Straßengraben gefunden hatte. Hilla beginnt sich mit den Verhältnissen, denen sie entstammt, auszusöhnen.

Einen erheblichen Anteil daran hat allerdings auch das sich wandelnde Verhalten ihrer Angehörigen ihr gegenüber. Ihr Erwachsenwerden bringt es jedoch mit sich, dass sie in neue tief greifende Konflikte gerät, die sogar den Kontakt zur Gefühlswelt ihrer Bücher zeitweise unterbricht.

Wissenschaftliche Sprachwelt

Hilla rettet sich in die Welt der Wissenschaftsworte. Sie hält sich Emotionen fern, indem sie diese, ihr Zustandekommen und ihre Wirkweisen zu sezieren und zu katalogisieren sucht. Es gibt Menschen, die ihr helfen wollen, zu erlebtem Gefühlsreichtum zurückzufinden. Aber noch wehrt sie sich dagegen, kann Nähe kaum mehr ertragen nach einem für sie grauenvollen Erleben. Aber es ist schon zu erahnen, wie sie den Neuaufbruch gestalten wird, der zum Ende des Buches hin gesetzt ist.

Die Autorin Ulla Hahn ist promovierte Germanistin und hat zahlreiche Lyrikbände und nun den zweiten Roman vorgelegt. Ihr erster Roman über das Mädchen Hildegard, "Das verborgene Wort", wurde übrigens zur Grundlage des 2008 bei ARTE gezeigten Fernsehfilms "Teufelsbraten".

Dorle Gelbhaar

Ulla Hahn "Aufbruch", DVA, München, 2009, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,592 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-421-04263-7#

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Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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