Serpil Midyatli: „Demokratie zu lernen, muss zu einem Eckpfeiler des Bildungssystems werden.“
imago images/U. J. Alexander
Welche Gefühle hatten Sie als Sie die Bilder von Rechtsextremen gesehen haben, die am Samstag die Stufen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin hochgestürmt sind und sich Zugang zum Gebäude verschaffen wollten?
Die Bilder vom Samstag waren erschreckend. Die Reichsflagge auf der Treppe vor dem Bundestag zu sehen, hat mich tief erschüttert. Spätestens jetzt muss auch jedem klar sein, mit wem er da in Berlin auf die Straße gegangen ist. Da waren Rechtsextremisten unterwegs, die uns alle herausfordern, unsere freie und demokratische Ordnung zu verteidigen. Wir Demokrat*innen müssen aufstehen und laut sagen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Jetzt ist Haltung gefragt.
„Rechtsextremismus ist die größte Gefahr in unserem Land“, hat der SPD-Vorstand schon im Frühjahr nach den Ereignissen in Thüringen und Hanau festgestellt. Wann hat sich da etwas verändert?
Nach dem Anschlag von Hanau war ein Punkt erreicht, an dem die Trauer um die Opfer in Wut umgeschlagen ist, dass so etwas schon wieder mitten in Deutschland passieren kann. Hinzu kam, besonders innerhalb der Migranten-Community, die Angst, selbst zum Opfer zu werden, wenn man in eine Shisha-Bar geht oder sich nur abends am Kiosk eine Tafel Schokolade kauft. Genau an diesen Orten sind die Menschen in Hanau ja Opfer des Attentäters geworden. Nach der Tat wird zumindest nicht mehr davon gesprochen, dass es sich nur um einen Einzeltäter handelt. Inzwischen wird erkannt, dass es rechte Strukturen gibt, die solche Taten hervorrufen.
Die SPD fordert einen „Pakt für das Zusammenleben in Deutschland“. Was soll der leisten?
Das sagt im Grunde genommen schon der Name. Der Pakt soll das Zusammenleben in Deutschland auf eine neue Grundlage stellen und dafür sorgen, dass sich die Menschen, die hier leben, sicher fühlen und mit Zuversicht in die Zukunft blicken können. Gleichzeitig soll der Pakt den Schulterschluss zwischen allen demokratischen Kräften bekräftigen und das Vertrauen in unser demokratisches Gemeinwesen erneuern.
Ziel des Paktes ist ein „Dreiklang aus Sicherheit, Teilhabe und Demokratie“. Wie kann der aussehen?
Ein Schwerpunkt des Paktes liegt auf der Sicherheit, und zwar im doppelten Sinn. Es geht zum einen um physische Sicherheit für Leib und Leben und den eigenen Besitz. Dafür braucht es eine bessere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und ein striktes Vorgehen gegen Verfassungsfeinde. Deshalb fordern wir u.a. Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Verfolgung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität. Zum anderen geht es aber auch um soziale Sicherheit wie gute und sichere Arbeit und bezahlbares Wohnen. Da wollen wir nicht, dass Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.
Was letztlich auch eine Frage der Teilhabe ist.
Genau. Allerdings spielen dafür auch andere Dinge eine Rolle. Deshalb wollen wir, dass sich die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, auch in der Öffentlichkeit zeigt. Dafür braucht es eine deutlich stärkere interkulturelle Öffnung der Verwaltung, der Justiz und der Polizei. Wir halten auch ein Bundespartizipationsgesetz für wichtig, damit Menschen mit Einwanderungsgeschichte auch in Behörden, in der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Kultur und natürlich auch der Politik vertreten sind. Das schafft auch Vorbilder, die dann wiederum ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen. Und wir wollen, dass die Bundesregierung einen unabhängigen Beauftragten für Antirassismus beruft, der auf Rassismus in der Gesellschaft aufmerksam macht und Lösungen erarbeitet, wie dagegen vorgegangen werden kann. Es darf nicht bei der Empörung bleiben, wenn es zu rassistischen Vorfällen kommt.
Die SPD fordert u.a., den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen. Warum ist das wichtig?
Das ist eine Haltungsfrage. Für die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatte der Begriff eine andere Bedeutung als für uns heute. Sie hatten auch die Erfahrungen der Nazi-Zeit im Hinterkopf. Heute transportiert „Rasse“ aber ganz andere Dinge und hat mit dem, wie wir leben wollen, nichts mehr zu tun. Deshalb muss der Begriff aus dem Grundgesetz, aber auch aus allen anderen Landesverfassungen, gestrichen werden.
Mit dem „Pakt für das Zusammenleben in Deutschland“ möchte die SPD auch „ein neues deutsches Wir schaffen“, das besonders auch die Menschen einbezieht, die noch nicht so lange in Deutschland leben. Wie kann das erreicht werden?
Indem sich die Diversität unserer Gesellschaft in allen Institutionen widerspiegelt. Die SPD kann und sollte da übrigens Vorbild sein, nicht nur auf der politischen Ebenen, sondern auch als Arbeitgeberin. Einen Kulturwandel erreichen wir am besten, indem wir die Menschen sichtbar machen.
Die Demokratie und ihre Werte haben zunehmend einen schweren Stand und werden von bestimmten Kreisen gezielt verächtlich gemacht. Wie kann das demokratische Bewusstsein wieder gestärkt werden?
Ganz entscheidend ist aus meiner Sicht ein Demokratie-Monitoring wie es das bereits in Niedersachsen gibt. So ein Monitoring könnte dazu beitragen, gesellschaftliche Konflikte, aber auch Vertrauensdefizite in staatliche Institutionen zu erfassen und so ein reales Bild der politischen Kultur in unserem Land zu zeichnen. Unerlässlich ist auch ein Demokratiefördergesetz, das die SPD schon lange auf den Weg bringen will und das die dauerhafte Förderung von Initiativen, die sich für die Demokratie einsetzen, sicherstellt. Und natürlich spielt politische Bildung insgesamt eine ganz wichtige Rolle, um das demokratische Bewusstsein zu stärken. Demokratie zu lernen, muss zu einem Eckpfeiler des deutschen Bildungssystems werden.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.