Kultur

Norwegen: Ein Mutter-Tochter-Drama auf den Spuren von Ingmar Bergman

Eine zerrüttete Familie und das eigene Ende als Abenteuer: „Das Entschwinden“ betrachtet existenzielle Erfahrungen vor imposanter Kulisse. Jetzt ist das Mutter-Tochter-Drama fürs Heimkino zu haben.
von ohne Autor · 20. November 2020
Roos (Rifka Lodeizen) erlebt ihre schwere Krise als Abenteuer.
Roos (Rifka Lodeizen) erlebt ihre schwere Krise als Abenteuer.

Alle Jahre wieder besucht Roos ihre Familie im hohen Norden Norwegens. Und alle Jahre wieder endet das Ritual mit Verletzungen und Enttäuschungen. Mutter und Tochter sind einander fremd geworden. Und es gibt wenig Hoffnung, dass sich das ändert. Doch diesmal ist alles ganz anders. Roos ist schwer krank. Die Niederländerin macht sich auf in die Winterwunderwelt, weil sie mehr denn je die Nähe ihrer Mutter sucht.

Sich vom Leben zu verabschieden ist eine kaum vorstellbare Herausforderung. Diese Erfahrung kann aber auch eine Reise zu sich selbst, wenn nicht gar ein Abenteuer sein. Genau so erlebt Roos diese Phase ihres Lebens. Zunächst ist aber doch einiges wie immer. Kaum hat Roos, die als Fotojournalistin ständig auf Achse ist, ihre Koffer ausgepackt, greifen die gewohnten Mechanismen zwischen Tochter und Mutter. Fremdheit und verkrampfte Oberflächlichkeit weichen Aggressionen. Halt findet sie bei ihrem Halbbruder Bengt und ihrem Ex-Lover Johnny. Wieder mal erscheint eine überhastete Abreise und eine Rückkehr in ihr eigenes Leben als einziger Ausweg. Wird sie die Kraft aufbringen, ihrer Mutter zu offenbaren, wie es um sie steht?

Im Moment der Krise scheint alles möglich

Die Mühen von Heimkehr und Versöhnung in einer existenziellen Krise mit zwei „starken Frauen“ im Zentrum der Handlung: So weit, so ausgelutscht? Keineswegs! Das an sich nicht ganz unbekannte Muster eines Familiendramas wird in „Das Entschwinden“ durchaus erfrischend und bisweilen gar überraschend verarbeitet. Das, was bei diesem Winterbesuch „anders“ ist, wird fast schon beiläufig entschlüsselt. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Roos diese Phase ihres Daseins durchlebt: Was treibt sie an? Was möchte sie erreichen? Alles scheint möglich.

Die Tage im Schnee werden tatsächlich zu einem Abenteuer, dessen Ende keineswegs abzusehen ist. Die verschneiten Berge und Wälder spielen dabei keine unwesentliche Rolle: Die imposante Winterlandschaft wird ebenso unprätentiös bebildert wie die Haus-und-Garten-Welt, in die sich die Mutter, einst eine weltweit gefeierte Konzertpianistin, vor Jahren zurückgezogen hat. Wohl aber verströmt das extrem aufgeräumte Hausinnere eine gewisse formale Strenge. Man kann es wohl als eine Allegorie auf eine Persönlichkeit verstehen, die von Kindesbeinen an auf Disziplin und Geradlinigkeit gedrillt wurde. Dass sie mit Bengt nun weit vom Schuss lebt, wirkt wie eine Flucht vor vergangenen Verletzungen und Enttäuschungen, seien sie nun familiärer oder künstlerisch-beruflicher Natur. Auch an diesen völlig gegensätzlichen Lebenswelten reiben sich die beiden Frauen immer wieder.

Klare Formen und Perspektiven

Nach und nach zeigt sich allerdings, dass beide Frauen keineswegs so unerschütterlich in ihrem Leben stehen, wie es scheint, vielmehr Suchende geblieben sind. All diese Erfahrungen und Dynamiken in einer Landschaft, die trotz ihrer klaren Formen und Perspektiven letztendlich unergründlich bleibt, bereiten den Boden für einen überraschenden und doch konsequenten Ausgang dieser Geschichte. Überraschend auch deswegen, weil nicht alle Wendungen auserzählt werden und zeitliche Sprünge zum Einsatz kommen. 

Der Verleih sieht „Das Entschwinden“ in einer Linie mit den psychologischen und philosophischen Dramen eines Ingmar Bergman. Deren, wenn man so will, universale Gültigkeit und Vielschichtigkeit erreicht die Arbeit des niederländischen Regisseurs Boudewijn Koole nicht, wenngleich das ebenso spröde wie unter großem Druck stehende Miteinander von Roos und Louise sowie die mitunter karge und strenge Ästhetik von dem großen Schweden beeinflusst sein mögen.

Ohnehin ist es zielführender, den Film an seinen eigenen Maßstäben und Möglichkeiten zu messen. So gesehen findet „Das Entschwinden“ eine sehr eigenständige Tonalität für einen oft erzählten Stoff. Hauptdarstellerin Rifka Lodeizen und Elsie de Brauw als mütterlicher Gegenpart erzeugen gerade mit sparsamen Mitteln eine intensive Wirkung. Den Rest erledigt die Natur.

Info: „Das Entschwinden“ (Niederlande/Norwegen 2017), Regie: Boudewijn Koole, Drehbuch: Jolein Laarman, Kamera: Melle van Essen, mit Rifka Lodeizen, Elsie de Brauw u.a., 88 Minuten. Jetzt auf DVD 

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