Kultur

Film „Unruh“: Als die Schweiz Sehnsuchtsort für Anarchist*innen war

Im 19. Jahrhundert wurde die Schweiz zum Sehnsuchtsort für Anarchist*innen. Mit subtilem Humor und eindringlichen Bildern erweckt der Historienfilm „Unruh“ eine politisch bewegte Zeit wieder zum Leben.
von ohne Autor · 6. Januar 2023
Alternative zum Kapitalismus: Fabrikarbeiterin Josephine Gräbli (Clara Gostynski) kämpft für eine gerechtere Welt.
Alternative zum Kapitalismus: Fabrikarbeiterin Josephine Gräbli (Clara Gostynski) kämpft für eine gerechtere Welt.

Zeit ist Geld. In einem Schweizer Uhrmachertal weiß man das besonders gut. Ende der 1870er-Jahre beliefert die örtliche Uhrenfabrik Kund*innen in aller Welt. Täglich ist die Unternehmensführung damit beschäftigt, sämtliche Abläufe so zu optimieren, dass bei der Fertigung möglichst wenig Zeit vergeht. Das bekommen besonders die fast ausschließlich weiblichen Arbeiter*innen zu spüren, die in Feinarbeit die Unruh, das mechanische Herz einer Uhr, zusammensetzen.

Anarchismus unter den Arbeiter*innen

Der kapitalistische Ordnungsdrang prägt das gesamte Leben in der Gemeinde. Parallel formiert sich dort etwas, was den Herren der Fabrik so gar nicht passt: Wenige Jahre nach der Niederschlagung der Pariser Kommune finden die Ideen der weltweiten anarchistischen Bewegung immer mehr Rückhalt in dem beschaulichen Tal, zumal unter den Arbeiter*innen. In vielen Betrieben entstehen anarchistische Zellen, die sich für die Rechte der Beschäftigten ein- und vom nationalkonservativen Mainstream absetzen. Konflikte mit der wirtschaftlichen und politischen Elite sind vorprogrammiert.

Kapitalismus und Anarchismus: In dem Historienfilm „Unruh" treffen diese beiden gegensätzlichen geistigen Welten in subtiler Weise aufeinander. Während die Anarchist*innen weitgehend im Verborgenen wirken, ist die Obrigkeit bemüht, den Schein der althergebrachten Ordnung zu wahren.

Liebe und Anarchismus

Im Zentrum der Handlung stehen die Fabrikarbeiterin Josephine Gräbli und der aus Russland angereiste Aktivist Pjotr Kropotkin. Zwischen den Geschwistern im Geiste entsteht eine zarte Beziehung, deren weitere Entwicklung im Vagen bleibt. Das gilt auch für viele andere Handlungsstränge des episodenhaften Films. Dessen elliptische Struktur ist einerseits verwirrend. Andererseits wird gerade dadurch ein besonderes cineastisches Erlebnis möglich.

Der Schweizer Regisseur Cyril Schäublin nimmt uns an die Hand und führt uns durch die vergangene Welt des frühen Industriekapitalismus mitsamt seiner allgegenwärtigen Geräuschkulisse. Hier klickern metallene Uhrenteile, dort ächzt ein Mühlrad und anderswo wummert ein Riemen. Da ist es nur konsequent, dass es in dem Film mit Ausnahme von zwei Chören keinerlei Musik zu hören gibt. Die Industrie – oft ist sie noch Handwerk – produziert ihren eigenen Soundtrack und bestimmt den Rhythmus vieler Szenen.

Rolle von Marx und Engels hinterfragt

Diese eindringliche Komposition aus Bildern und Klängen bleibt stets dem Realismus verpflichtet, ohne sich im Hinblick auf weitere Nuancen zu limitieren. Das Ensemble aus vielen kleinen Geschichten hat auch im politischen Sinne einen realen Hintergrund.

1871 veröffentlichte eine Sektion der Schweizer Uhrenarbeiter*innenbewegung einen Brief, in dem sie die führende Rolle von Karl Marx und Friedrich Engels innerhalb der sozialistischen Bewegung kritisch hinterfragte. Das Schreiben stieß in der internationalen sozialistischen Bewegung auf große Aufmerksamkeit. Die Erste Antiautoritäre Internationale formierte sich. Ihr erster Kongress fand 1872 in der Schweizer Gemeinde Saint Imier, dem Schauplatz von „Unruh“, statt.

Viel Präzision und Atmosphäre

Mitglieder und Besucher*innen reisten aus vielen Ländern dorthin. Viele blieben in dem Tal und druckten dort Zeitungen und Bücher, die ins Ausland geschmuggelt wurden. Auch der russische Sozialist und Schriftsteller Pjotr Kropotkin fand seinen Weg ins Kanton Bern und wurde dort zum Anarchisten. An dieser historischen Figur orientiert sich Schäublins Kropotkin.

Mit äußerster Präzision, aber auch reichlich Atmosphäre bringt der Film diese Welt im Umbruch zum Leben. Die ausschließlich mit natürlichem Licht gedrehten Szenen ergeben einen ruhigen Bilderstrom, der immer wieder überraschende Details offenbart. Um ein Maximum an authentischer „Alltäglichkeit" zu erreichen, setzte Schäublin ausschließlich Laiendarsteller ein.

Verbindung in die Gegenwart

Dem Filmemacher ging es allerdings nicht nur darum, der Bewegung der Uhrenarbeiter*innen ein Denkmal zu setzen und Vergangenes abzubilden. In „Unruh“ schwingt einiges mit, was eine Verbindung in die Gegenwart schlägt. Es wird gezeigt, wie bedeutsam schon damals die internationale Vernetzung für progressiven Aktivismus war. Wie konträre gesellschaftliche Kräfte sich von eigenen, geradezu mythologischen Erzählungen leiten lassen. Und es wird die Frage aufgeworfen, ob es sich bei manch einem kapitalistischen Lehrsatz womöglich um reine Fiktion handelt.

All diese Fragen finden Raum in einem sorgfältig komponierten Rausch aus Bildern. Dieser ist oftmals genauso behäbig wie das klischeehafte Grundwesen, das der Schweiz gerne attestiert wird. Einiges von dem, was uns Schäublin über sein Land erzählt, ist reine Persiflage. Dass daraus niemals eine verzerrte Karikatur wird, unterstreicht die besondere Kunstfertigkeit dieses Films, der bei der letztjährigen Berlinale ausgezeichnet wurde.

Info: „Unruh" (Schweiz 2022), ein Film von Cyril Schäublin, Kamera: Silvan Hillmann, mit Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard u.a., OmU, 93 Minuten
Im Kino
https://grandfilm.de/unruh/

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