Film über den Ukraine-Krieg: Unterwegs in einer sterbenden Stadt
Es ist, als würde Marinka in der Erde versinken. So beschreibt Vasyl seinen Eindruck von der zerstörten Stadt in der südöstlichen Ukraine. Gut ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Invasion rast der Evakuierungshelfer mit seinem Kollegen in einem Transporter durch die Straßen, um Menschen aus der umkämpften Frontstadt zu retten. Immer wieder sind zerschossene Häuser, ausgebrannte Autowracks und Krater zu sehen. In der Nähe krachen Artilleriegeschütze. Nicht nur Marinka, sondern auch unzählige Existenzen liegen in Trümmern.
Vom Untergang einer 10.000-Seelen-Stadt
Was Vasyl bei seinen lebensgefährlichen Einsätzen sah und erlebte, hat er mit seiner Helmkamera festgehalten. Der frühere Polizist wollte Beweise sammeln für ein mögliches Strafverfahren gegen das russische Regime, das für diese Verwüstung verantwortlich ist. Die Aufnahmen dienten als Grundlage für Arndt Ginzels Film.
Wiederholt hat der deutsche Journalist im Fernsehen über den Krieg in der Ukraine berichtet. Das mittlerweile völlig entvölkerte Marinka wurde für ihn zum Sinnbild eines Schlachtfeldes. Ursprünglich wollte er vor Ort den Untergang der 10.000-Seelen-Stadt im Gebiet Donezk einfangen. Weil das zu gefährlich war, griff er auf Vasyls Aufnahmen zurück. Das Material ergänzte er durch Interviews mit geretteten Zivilist*innen und dem Helferteam um Vasyl. Dieser sprach auch den Off-Text ein. So wurden seine auf Unmittelbarkeit abzielende Bilder mit verschiedenen Zeitebenen verquickt.
Herausgekommen ist eine erschütternde Erzählung, die dem Krieg im Wortsinn sehr nahekommt: in den Bildern und in den Berichten der Menschen, die nun in relativer Sicherheit sind. Die verwackelten Aufnahmen von Vasyls Action-Cam erinnern an Ego-Shooter-Spiele, wenngleich die Männer nicht schießen, sondern helfen. Stets ist es ein Kampf gegen die Zeit. Im Eiltempo holen sie Menschen aus Kellern und bringen die weg von der Front. Die Rettungsaktionen trugen ihnen den liebevollen Spitznamen „Weiße Engel“ ein. Mitunter kommen sie aber auch zu spät. Dann bleiben nur Leichensäcke.
Der Krieg aus nächster Nähe
Die Bildercollage, die Ginzel und sein Team aus dem rund 40 Stunden umfassenden Rohmaterial geformt haben, mutet den Zuschauenden einiges zu. Menschliches Leid begegnet uns in vielen Facetten. Zugleich wurde der Film sehr behutsam und subtil, mitunter sogar mit einer gewissen Poesie montiert. Wenige hoffnungsvolle Momente hellen das Ganze zumindest etwas auf.
Vor allem aber ist die besagte Beweiskraft gegeben, und zwar nicht nur im Hinblick auf Russlands Verbrechen. In vielerlei Hinsicht straft dieses erschütternde Werk die Kremlpropaganda Lügen. Sowohl die Helfer als auch die Einwohner*innen aus Marinka sprechen Russisch. Niemand hier möchte sich von Putin aus den Klauen angeblicher ukrainischer Nazis befreien lassen. „Wir hatten ein gutes Leben“, sagt eine ältere Frau, die im Zuge der Kämpfe ihren Mann verlor. „Ohne Krieg hätten wir gelebt, gelebt, gelebt.“ Bis zuletzt haben sie und andere gehofft, weder ihr bisheriges Leben noch ihre Heimat aufgeben zu müssen. Diese Hoffnung kann so stark sein, dass sie im Moment der Evakuierung die Sinne der traumatisierten Schutzbedürdtigen benebelt.
Idyll und Todesfalle
Die bitteren Worte jener Witwe spiegeln sich in vielen Bildern wider. Trotz der allgegenwärtigen Zerstörung lassen die Eigenheime mit Garten die einstige Idylle erkennen. Mit Taschen bepackte Frauen und Männer hetzen von dort zu Vasyls Transporter. Für viele andere wurden solche Orte wegen des russischen Beschusses zur tödlichen Falle.
Dieser Film, der dieser Tage beim DOK Leipzig seine Weltpremiere erlebte, beinhaltet Szenen, die man wohl nie vergessen wird. Er feiert die Menschlichkeit im Angesicht der Schrecken des Krieges. Zugleich klagen die nahezu ungefilterten Eindrücke vom Leid der Leute aus Marinka das vom imperialen Despotismus der russischen Führung verkörperte Unmenschliche an. Dieser aufwühlende Dokumentarfilm sollte auch hierzulande all jenen die Augen öffnen, die Russlands Krieg gegen die Ukraine relativieren oder womöglich sogar verteidigen.
Info: „White Angel – Das Ende von Marinka“ (Deutschland 2023), ein Film von Arndt Ginzel, 103 Minuten, FSK ab 16 Jahre