Rosa Luxemburg: Umkämpfte Erinnerung an eine besondere Persönlichkeit
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Leben und Werk, Forschung und Erinnerungskultur zu Rosa Luxemburg (1871 bis 1919) bieten bis heute sowohl Raum für wissenschaftliche Erkundungen als auch für kontroverse Deutungsgefechte. In den letzten 100 Jahren gab es folglich geschichtspolitische und historiografische Konjunkturschwankungen. Die transnationale Biografie dieser Sozialistin, ihr Emanzipationsstreben und ihre intellektuelle Produktivität sind allerdings mit Parteinahme oder polarisierenden Bewertungen nicht zu greifen.
Selbstbewusst durch politische Umbrüche
Von der Kindheit in Zamość und Warschau zum Studienort Zürich, mit journalistischen Stationen in Paris und Dresden bis zur langjährigen Wirkungsstätte in der rasant wachsenden Metropole Berlin und durch zahlreiche Vortrags- und Recherchereisen sowie Teilnahmen an internationalen Kongressen bewegte sich Rosa Luxemburg selbstbewusst durch die politischen Umbrüche und über die nationalen Grenzen und Sprachräume um 1900. Ihre wissenschaftliche und politische Selbstbefähigung bietet beeindruckende Beispiele für die Handlungsmöglichkeiten einer sozialistischen Intellektuellen.
Rosa Luxemburg ließ sich weder von ihrer nationalen oder ihrer religiösen Herkunft noch von ihrem Geschlecht oder ihren körperlichen Einschränkungen aufhalten. Für ihre Meinungsäußerungen zu Monarchie und Militarismus musste sie längere Haftstrafen in Kauf nehmen. Mit ihrer intellektuellen Strahlkraft, gepaart mit menschlicher Empathie und wissenschaftlicher Neugier, die insbesondere in ihren über 2.700 überlieferten Briefen zum Ausdruck kommen, avancierte sie für viele zum Vorbild. Dies unterstreichen die umfangreichen biografischen Studien von Paul Frölich über John Peter Nettl und Elzbieta Ettinger bis Ernst Piper, die fortdauernde internationale Rezeption ihrer Werke von Japan und China über Indien bis Südamerika sowie Filme, Romane und Theaterstücke.
Sprachgewandte Journalistin und brillante Rednerin
Ihr selbstbewusstes Auftreten gegenüber Autoritäten und ihr Talent zu wortgewaltigen Polemiken stießen zeitgenössisch in der Sozialdemokratie des Kaiserreichs und in der Internationale auf teilweise heftigen Widerspruch. In den großen strategischen Kontroversen dieser Jahre über revolutionäre Umstürze und die Reformspielräume im Kapitalismus, über politische Streikmacht und Unabhängigkeit der Gewerkschaften und über die Alternativen zur Burgfriedenspolitik konnte der linke Flügel innerhalb der SPD keine Mehrheiten gewinnen. Trotzdem war Luxemburg als sprachgewandte Journalistin und Redakteurin, als Lehrerin an der Parteischule sowie vor allem als rhetorisch brillante Rednerin auf unzähligen Versammlungen im ganzen Reich äußerst beliebt.
Ihre Hoffnungen auf Lernprozesse innerhalb von Massenbewegungen oder eine revolutionäre Systemtransformation haben sich im 20. Jahrhundert als trügerisch und gefährlich erwiesen. Rosa Luxemburg unterschätzte die Gestaltungsspielräume für soziale Verbesserungen in demokratischen Rechtsstaaten, die allerdings den Raubbau und das destruktive Potenzial des global expandierenden Kapitalismus nie ganz eindämmen konnten. Insofern bilden marxistische Krisenszenarien, wie sie Rosa Luxemburg in ihren ökonomischen Studien beschrieb, weiterhin einen Bezugspunkt in der aktuellen Rezeption.
Im zeitlichen Umkreis der grausamen Ermordung in den Revolutionswirren des Januar 1919 dominierte in den Verlautbarungen der Sozialdemokratie nach Jahren der aufreibenden wechselseitigen Vorwürfe die entschiedene Distanz. Während die kommunistische Seite Luxemburg (zusammen mit Karl Liebknecht) als Märtyrerin der „verratenen“ proletarischen Weltrevolution stilisierte und für sich reklamierte, blieben in der SPD die Schuldzuweisungen für die revolutionäre antiparlamentarische Gewalt von links und die Erinnerung an die Auseinandersetzungen und Spaltungen der letzten Jahre vorherrschend.
Kronzeugin für einen demokratischen Kommunismus
Zwischen diesen parteipolitisch verfestigten Lagern gab es aber auch schon in den 1920er-Jahren einige Differenzierungen. Ein Grund hierfür lag in der Entwicklung des Sowjetkommunismus, dessen autoritäre Verhärtung eine Vielzahl weiterer Konfliktlinien hervorbrechen ließ. Rosa Luxemburg wurde nun als Kronzeugin für einen demokratischen Kommunismus bemüht, ihre dokumentierte Kritik am Parteimodell der Bolschewiki bot hierfür manches Stichwort.
Auch in der Sozialdemokratie fanden sich noch Anhänger*innen: Weggefährt*innen und Freund*innen Rosa Luxemburgs wie Paul Levi oder Mathilde Jacob, die ihre Schriften und ihren Nachlass überlieferten und an ihre Ideen anknüpften, entfalteten allerdings keine Breitenwirkung in der Partei. Eine weitere Bezugnahme ging von oppositionellen Kommunist*innen wie Paul Frölich, August Thalheimer oder Rosi Wolfstein aus, die ihren Bruch mit dem Stalinismus auch mit Luxemburgs revolutionärem Humanismus legitimieren konnten.
Theorietraditionen als Identifikationsangebote
Nach 1945 bot Luxemburg Anknüpfungspunkte für die Sozialist*innen, die aus den sogenannten Zwischengruppen in die Sozialdemokratie strömten. Politikwissenschaftler*innen wie Ossip K. Flechtheim oder Iring Fetscher machten ausgewählte politische Schriften in der Europäischen Verlagsanstalt einer neuen Generation zugänglich. In den 1960er-Jahren begriffen sie vor allem im Sozialistischen Deutschen Studentenbund, bald darauf aber auch im Sozialistischen Hochschulbund und bei den Jungsozialisten, diese Theorietraditionen als Identifikationsangebote und trugen so teilweise eigene unbequeme Kämpfe innerhalb der nun regierenden Sozialdemokratie aus.
In der DDR wurden ab 1970 Gesammelte Werke (in fünf Bänden, zwei weitere folgten 2014 und 2017) und ab 1982 die Gesammelten Briefe in (zunächst) fünf Bänden (Band 6 erschien 1993) herausgegeben, die zwar von politischen Vorgaben begleitet wurden, aber viele Dokumente erstmals zugänglich machten. Auf dieser Grundlage waren in gewissen Grenzen sowohl Präzisierungen als auch Neuinterpretationen von Streitfragen möglich, beispielsweise über das Verhältnis Luxemburgs zur russischen Revolution oder über die Vorstellung einer „Diktatur des Proletariats“.
Diese Deutungskonflikte überdauerten auch das Ende des Kalten Kriegs. Zu Jubiläen und in der historisch-politischen Bildungsarbeit blitzen sie besonders häufig auf, wenn die Unterschiede zwischen historischer Analyse, sachlicher Bewertung, Parteinahme und Gegenwartsbezug fließend werden. Eine breite Kenntnis der Quellen und der Forschungsliteratur sowie ein kreatives Gespür für neue Fragestellungen könnten hier helfen, über ritualisierte Darstellungen hinauszugehen. Bei den riesigen Herausforderungen der Gegenwart helfen historische Analogien und einprägsame Zitate nur bedingt.
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ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Archiv für Sozialgeschichte“ (AfS) der Friedrich-Ebert-Stiftung und Co-Sekretär der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft.