Kultur

Wechsel zum HSV: Klassenverrat!

von Die Redaktion · 20. Februar 2007
placeholder

Von Volker Stahl und Folke Havekost

HARBURG - Im Victoria-Stadion Hoheluft sind 20 000 Zuschauer entsetzt. Es sind erst drei Minuten vergangen, und Lorbeer liegt schon mit 0:2 im Rückstand. Was dann passiert, bietet im Hamburg des Jahres 1931 noch tagelang Gesprächsstoff. "Lorbeer läuft nun zu Hochform auf; vor beiden Toren spielen sich dramatische Szenen ab", schreibt die Freie Sportwoche. Die Rothenburgsorter drehen das Endspiel um die deutsche Meisterschaft im Arbeiterfußball, gewinnen gegen die SG Leipzig-Pegau schließlich 4:2 - nach 1929 (5:4 gegen die FT Döbern) bereits der zweite Titel für Lorbeer.

Arbeiterfußball in Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg weit verbreitet. Der Arbeiter Turn- und Sport-Bund (ATSB) stand in Konkurrenz zur Deutschen Turnerschaft oder dem DFB und trug eigene Meisterschaften aus. Zur Hochzeit waren im ATSB 8000 Fußballmannschaften organisiert, der zweifache Meister Lorbeer gehörte über Jahre zur deutschen Spitzenklasse. "Die Geschichte des Vereins ist auch ein Abbild der Zeitgeschichte", sagt Heinrich Nahr, Mitglied einer Projektgruppe, die die wechselvolle Geschichte der Rothenburgsorter Sportler aufarbeitet. 1896 gründete sich die Freie Turnerschaft Hammerbrook-Rothenburgsort, 1906 der SC Lorbeer. Heute bilden die beiden 1946 fusionierten Vereine den F.T.S.V. Lorbeer Rothenburgsort.

"Old Erwin", Vater der Fußball-Legende Uwe Seeler

"Über den Sport haben die Arbeiter versucht, auch gegen Widerstände ihre eigenen Wege zu gehen", resümiert Nahr, "es war auch ein Ventil, um den Alltag zu bewältigen." Klassenbewusstsein wurde groß geschrieben. Zum Einlauf der Finalgegner 1931 intonierte das Trommler- und Pfeiferkorps den Sozialistenmarsch. "Wir haben Friede, Freiheit, Recht / Keiner ist des andern Knecht", hieß ein Motto der Arbeitersportler. Schon die Gründungsaufrufe für die Vereine wurden im Kaiserreich von der Polizei aufmerksam gesammelt und sind heute im Hamburger Staatsarchiv zu finden.

Zwar kickten die meisten Arbeiter auch in der Weimarer Republik in bürgerlichen Vereinen, doch die Spitzenklubs des ATSB wie Lorbeer verfügten über ein beachtliches Niveau. In Rothenburgsort traten August Postler und Erwin Seeler gegen den Ball, zwei Kicker, deren Wege nach den gemeinsamen Meistertagen sehr unterschiedlich verliefen. "Old Erwin", Vater der Hamburger Fußballlegende Uwe, war als Mittelstürmer ein Torgarant und zog rasch begehrliche Blicke der DFB-Klubs auf sich. Der 1973 pensionierte Ewerführer und Stauerviz im Hamburger Hafen war Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre das Idol der deutschen Arbeitersportbewegung. Bei den Arbeiter-Olympischen Spielen 1932 in Wien erzielte er beim 9:0 gegen Ungarn sieben Tore. Zurück in Hamburg musste er sich dafür rechtfertigen, den Platz auf den Schultern begeisterter Zuschauer verlassen zu haben - jeglicher Personenkult war bei den Arbeitersportlern verpönt. Die Namen der Torschützen sucht man in den einschlägigen Publikationen vergeblich. Nicht der Individualist, die Mannschaft zählte - hoch die internationale Solidarität! Seeler spielte 57 mal für die Auswahlteams der Nordmark und Hamburgs. "Von ihm habe ich Robustheit, den Willen und das Durchsetzungsvermögen geerbt", erklärte Sohn Uwe später seine eigene Berühmtheit.

1932 wechselte Erwin Seeler zum bürgerlichen SC Victoria und provozierte damit einen Skandal. Einen "Hochmutsfimmel" warf das sozialdemokratische Hamburger Echo dem "verirrten Proletarier" daraufhin vor. Arbeiterfußballer hätten schließlich nicht als "Paradepferde für die Kassen der bürgerlichen Bewegung" zu dienen. Als Erwin Seeler später sogar am feinen Rothenbaum beim Nobelklub Hamburger SV anheuerte, sahen viele Proletarier, zu denen sich damals auch der spätere Rhetorik-Professor Walter Jens zählte, rot: "Aber jetzt zum HSV: Das glaubten wir, sei Klassen-Verrat - Old Erwin spielt fürs Kapital!"

August Postler, der im 1931er Finale zu drei Seeler-Treffern das vierte Lorbeer-Tor beisteuerte, sah das wohl ähnlich. Rechtsaußen stand der KPD-Anhänger nur auf dem Platz. In der Endphase der Weimarer Republik kam es 1932 zum Bruch. Die Kommunisten hatten mit der Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit, kurz "Rotsport" genannt, längst eine Konkurrenzorganisation zum SPD-nahen ATSB gegründet. Postler, im Zivilleben gelernter Elektriker ohne Anstellung, rief eine eigene Zeitung ("Roter Nordsport") ins Leben, die kommunistischen Spieler spalteten sich als FSV Rothenburgsort 32 ab.

Als der Arbeitersport von den Nazis verboten wurde.

Doch bald darauf war es mit dem Arbeitersport ganz vorbei: Nach der Machtübernahme der Nazis wurden alle Vereine zwangsaufgelöst. Postler ging in den Widerstand, wurde verhaftet und starb am 14. März 1934 unter ungeklärten Umständen. Heute erinnert in Eimsbüttel ein alljährliches Freizeitfußballturnier um den August-Postler-Pokal an den NS-Gegner.

Während sich der Arbeiterfußball niemals mehr vom Faschismus erholt hat, ist Rothenburgsort bis heute von den Auswirkungen der "Operation Gomorrha" geprägt - als alliierte Bomberstaffeln im Juli 1943 den Hamburger Stadtteil in Schutt und Asche legten. Im einstigen Wohnquartier leben heute nur noch 9000 Menschen, ein Sportverein tut sich da zwischen Industrieanlagen und Lagerstätten schwer. Das Viertel ist eingeschnürt zwischen Elbe, Bahndamm und Autobahn. "Wir leben wie auf einer Insel", klagen die Rothenburgsorter. Es mangelt an Vielem, besonders an Geschäften und Cafés. "Wir haben bloß Lidl, Aldi und Penny", klagt eine Besucherin des kleinen Vereinslokals an der Marckmannstraße 125, wo sich die agile alte Dame nachmittags mit zwei Freundinnen auf ein Tässchen Kaffee verabredet hat. Viel los ist an dem trüben Wintertag nicht in dem an den Grandplatz grenzenden Vereinshaus, auf dem die erste Mannschaft in der Kreisliga 4 kickt.

Zu behaupten der Lorbeer sei verwelkt, wäre unfair gegenüber den Menschen, die sich teilweise seit Jahrzehnten um den Rothenburgsorter Traditionsverein bemühen. Etwa Gerda Laas, Kassenwartin des schrumpfenden Klubs, die "den Verein seit 30 Jahren am Leben erhält", wie Hauke Netzel sagt, der im blau-weißen Lorbeer-Jersey dem Ball nachjagt. Mit Laas ist auch die letzte große Erfolgsepoche der Rothenburgsorter verbunden. Die Fußballerin gehörte zum Team, das am 17. Juni 1971 durch ein 2:0 gegen Sperber die erste Hamburger Frauenfußballmeisterschaft gewann - zu einer Zeit, als Frauen als "fußballverrückte Grazien" mit "eisernen Busen" verspottet wurden. Der Titel war noch inoffiziell, erst 1972 gab der Hamburger Fußballverband der Meisterschaft der Amazonen seinen offiziellen Segen. "Die Männer, auch unsere eigenen, haben uns damals heimlich ausgelacht", blickt die heute 73-Jährige auf die "spannende Gründerzeit" zurück. "Aber zugeguckt haben sie bei unseren Spielen doch immer."

Die Haare werden immer länger

Anfang der 1970er Jahre herrschte eine Aufbruchstimmung in der Bundesrepublik, auch im Sport. Die Haare der Fußballer wurden immer länger. Günter Netzer erfand den Pass aus der Tiefe des Raumes. Die Diktatoren im Trainingsanzug hatten weitgehend abgedankt. Und die Frauen forderten ihr Recht - erst im Oktober 1970 hob der DFB das Frauenfußball-Verbot auf. Seitdem wurde in einigen Regionen verbandsoffiziell um Punkte gekämpft und kräftig gefeiert. Wenn Gerdas Laas vom "Farbentrinken" unter Frauen erzählt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: "Alle Sorten Schnaps querbeet - wie unsere Männer." Mit dem Kicken angefangen hatte die "gelernte Handballerin" 1968, als ihr Team nach dem Training noch eine zusätzliche Schicht mit dem Fuß einlegte. "Das Spiel mit dem Ball, dem großen und kleinen, hat mich immer fasziniert", erzählt die gelernte Buchhalterin, die im Krieg in den Westen geflüchtet war und zunächst in Rheine landete. Seit 1954 lebt sie in Hamburg.

Zwei Jahrzehnte dominierte Lorbeer den Frauenfußball an Alster und Elbe. 1987 wurden die Nachfolgerinnen von Laas & Co. Norddeutsche Meisterinnen und erreichten das Halbfinale des DFB-Pokals. Doch auch diese Tage sind längst vergangen. 2005 stieg das Team in Hamburgs niedrigste Spielklasse ab - die Bezirksliga. Heute konzentriert sich der Verein darauf, ein breiteres Sportangebot für die Menschen im wirtschaftlich nicht besonders florierenden Viertel anzubieten. Dazu soll die Handball-Abteilung ebenso wiederbelebt wie auch ein lockerer Badminton-Treff ins Leben gerufen werden, entwirft Schiedsrichter-Obmann Ingo Pargmann die Zukunft.



"Die Jugend stirbt aus"


Doch der Nachwuchs bereitet dem Verein Sorgen. "Die Jugend stirbt aus", schildert Gerda Laas das Dilemma, "die jungen Leute arbeiten nicht mehr im Stadtteil, darunter leidet die Bindung - auch zum Klub vor Ort." Die Vereinstreue hätte früher einen viel höheren Stellenwert gehabt, beklagt die Funktionärin, die ihrem Verein in den vergangenen Jahrzehnten ehrenamtlich als Schriftführerin, Jugendwartin und Handballtrainerin diente. Heute führt sie die Kasse und zeichnet verantwortlich für die Vereinszeitschrift "Lorbeerblatt". Aber das wird von immer weniger Interessierten gelesen. Noch vor 30 Jahren hatte Lorbeer 800 Mitglieder, heute sind es knapp 400.

Probleme gibt es reichlich, sagt Laas: "Viele Eltern meinen, wir sind ein besserer Kindergarten." Manche Jugendliche kommen ohne Frühstück zum Training. Es hapert an der Erziehung, die Sprache wird nicht gepflegt, verbale Rüpeleien nehmen zu. "Der Respekt fehlt heutzutage, aber das ist nicht nur ein Vereinsproblem, sondern ein gesellschaftliches" - wie die Arbeitslosigkeit, von der auch Mitglieder des ehemaligen Arbeitssportvereins betroffen sind. "Früher sang unser mittlerweile verstorbener Chronist Fiete Benn auf Festen 'Mit uns zieht die neue Zeit', heute gibt es keine Arbeiter mehr", sagt Gerda Laas. "Entweder haben sie einen 'Job' oder sie sind Hartz IV."

Auch wenn das 1916 von Hermann Claudius geschriebene Arbeiterlied, das bis in die 1990er Jahre zum Abschluss von SPD-Parteitagen aus vollen Kehlen geschmettert wurde, heute nicht mehr an der Marckmannstraße erklingt - eine Flaschenpost hat die Zeiten und Lorbeers Wandel vom Arbeiter- zum Breitensportverein überdauert: Fiete Benns Koffer. Das gute Stück beherbergt unwiederbringliche Fotos, Zeitungsschnipsel und Dokumente zur Vereinsgeschichte. Die Arbeitsgruppe um Heinrich Nahr und Hauke Netzel will die glorreiche Vergangenheit mit Fietes posthumer Hilfe wieder aufleben lassen und pünktlich zum 111. Geburtstag, eine Chronik vorlegen. Darin wird Fiete Benn ein letztes Mal singen: "Wann wir schreiten Seit' an Seit' und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muss gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit, mit uns zieht die neue Zeit."



Literatur:

Bibliographie:

• Eike Stiller (Hg.): Literatur zur Geschichte des Arbeitersports in Deutschland von 1892 bis 2005. Eine Bibliographie, Trafo Verlag, Berlin 2006, 333 Seiten, 39,90 Euro

Zum Weiterlesen:

• Horst Ueberhorst: frisch, frei, stark und treu. Die Arbeitersportbewegung in Deutschland, Düsseldorf 1973

• Projektgruppe Arbeiterkultur Hamburg (Hg.): Vorwärts - und nicht vergessen. Arbeiterkultur in Hamburg um 1930, Hamburg 1982

• Hans Joachim Teichler, Gerhard Hauk: Illustrierte Geschichte des Arbeitersports, Bonn 1987

• Arnd Krüger, James Riordan (Hg.): Der internationale Arbeitersport, Köln 1985

• Frank Nitsch, Jürgen Fischer, Klaus Stock (Hg.): 90 Jahre Arbeitersport, Münster 1985

• Fritz Wildung: Arbeitersport, Berlin o.J.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare