Wie die SPD die Corona-Pandemie für überfällige Veränderungen nutzen sollte
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Täglich ändert sich die Corona-Situation. Infektionszahlen steigen und sinken, Virolog*innen revidieren immer wieder das Wissen über Inkubationszeit, Übertragungswege und Eigenschaften des Erregers. In den täglichen Sprachgebrauch mischen sich bisher unbekannte Vokabeln wie „Superspreader“, „Aerosole“ oder „Herdenimmunität“. Maskenpflicht, Abstandsregeln oder Reiseeinschränkungen verändern das Miteinander.
In Zeiten der Ungewissheit sind Expert*innen der gegenwartsorientierten Wissenschaften meist sehr gefragt – vor allem, wenn sie Prognosen über die Zukunft vorlegen. Dabei kann auch der Blick in die Vergangenheit hilfreich sein.
Im zeitlichen Vergleich rücken meist die „Spanische Grippe“ zwischen 1918 und 1920 sowie die weltweit grassierende Asiatische Grippe 1957/58 und die Hongkong-Grippe 1968/69 in den Mittelpunkt. Ein Blick auf diese Beispiele macht jedoch deutlich: Die Rahmenbedingungen waren jeweils sehr unterschiedlich.
Seuchen verschärfen bereits bestehende Probleme
Bereits jetzt wird die Corona-Pandemie als Zäsur gewertet, eine die sich tief in ein „Zeitalter der Immunität“ (Malte Thießen), in dem sich große Teile der Bevölkerung des globalen Nordens vor Infektionskrankheiten sicher wähnten, einschneidet. Ganz anders war dies z.B. 1918/19, denn Kriegsniederlage, Novemberrevolution, Mangelwirtschaft etc. überlagerten die Problematik der Spanischen Grippe. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Pandemie gab es darüber hinaus wenig wissenschaftliche Expertise und medizinische Ressourcen waren durch den Krieg gebunden bzw. mussten in der Nachkriegsphase erst wieder aufgebaut werden.
Einige Einsichten ermöglicht der historische Vergleich dennoch, wobei hier eine herausgegriffen werden soll: Seuchen verschärfen bereits bestehende soziale Ungleichheiten und Probleme im Gesundheits- und im Sozialsystem. Ihre Schwachstellen werden besser sichtbar. Massive Krisen schaffen als „Great Leveler“ (Walter Scheidel ) Gelegenheitsfenster zu großangelegten Veränderungen im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik.
Auch im Rahmen von Corona sind nun politische Entscheidungen und Strukturveränderungen möglich, für die es sonst keine überparteilichen Mehrheiten gäbe. Es stellt sich die Frage, wie die SPD damit umgehen soll.
Gesundheitspolitik ist erst seit Godesberg ein Thema der SPD
Zur Gesundheitspolitik hatte die SPD jahrzehntelang ein spezielles Verhältnis. Sozialdemokratische Gesundheitspolitik war bis in die 1960er-Jahre hinein primär Arbeitsschutzpolitik. Es dauerte lange, bis explizite gesundheitspolitische Forderungen in die Programmatik aufgenommen wurden.
Das erste Parteiprogramm, das einen umfassenderen gesundheitspolitischen Teil aufwies, war das Godesberger Programm (1959). Erstmals wurden die sozialdemokratischen Grundsätze einer egalitären und progressiven, also den medizinisch-wissenschaftlich und -technischen Möglichkeiten entsprechenden Behandlung, festgeschrieben. Die auf dem Parteitag in Karlsruhe (1964) beschlossenen „Gesundheitspolitischen Leitsätze der SPD“ legten dann fest, dass Gesundheitspolitik nicht mehr als „ergänzte Sozialpolitik“, sondern als eigenständiges Politikfeld verstanden werde sollte.
Weiter geht das aktuell gültige Hamburger Programm (2007). Es stellt die Einführung der „Solidarischen Bürgerversicherung“ als Ziel in den Mittelpunkt. Mit der Bürgerversicherung und dem Hinweis, dass medizinischer Fortschritt genutzt werden muss, um Krankheiten zu heilen und unheilbar Kranke menschenwürdig zu versorgen, unterstreicht die Partei die Grundsätze der Gleichheit und des Progressivismus in der Gesundheitspolitik. Das bedeutet, dass Gesundheit zum einen nicht vom Geldbeutel oder vom sozialen Status abhängen darf. Zum anderen hat sich sozialdemokratische Gesundheitspolitik am neuesten Stand der Wissenschaft und Technik zu orientieren, was eine entsprechende Forschungsförderung miteinschließt.
Viele Probleme sind schon lange bekannt
Die aktuelle Fokussierung auf Corona ist richtig und nachvollziehbar. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass im Gesundheits- und vor allem Pflegesystem auch schon vor Corona Defizite bestanden. Corona- hat die Notwendigkeit einer Stärkung des seit Langem marginalisierten öffentlichen Gesundheitsdienstes und der kommunalen Gesundheitsämter deutlich gemacht. Diese seit 1949 zu „Restämtern“ (Christoph Sachße) degradierten Strukturen, brauchen mehr Personal sowie finanzielle Mittel. Neben dem Infektionsschutz dürfen die Prävention (Schulgesundheitspflege, Suchtberatung etc.) und die Versorgungsforschung nicht vernachlässigt werden. Es bedarf einer systematischen Reform, die das Verhältnis zu anderen gesundheitspolitischen Akteuren neu ordnet und das Gesamtprofil der Gesundheitsämter berücksichtigt.
Auch die Probleme in der Pflege sind schon lange bekannt, aber die Hoffnung ist, dass es jetzt zu einer nachhaltigen gesellschaftlichen Aufwertung kommt, die sich dann auch in verbesserten Arbeitsbedingungen und Löhnen niederschlägt. Darüber hinaus richtet sich während der Corona-Pandemie die Aufmerksamkeit mehr auf Krankenhäuser und Pflegeheime, weil sie als besonders relevant für das Infektionsgeschehen gelten. Gerade jetzt, wo wir aber auf das häusliche Umfeld als Arbeitsplatz (Stichwort „Home Office“) schauen, wäre die Gelegenheit, die ambulante Pflege in den Blick zu nehmen. Bringt schon das Arbeiten im eigenen Heim einige Schwierigkeiten mit sich, dann gilt das für das Arbeiten in den vier Wänden anderer Menschen umso mehr. Neben besserer Bezahlung braucht es vor allem Anstrengungen das Arbeitsrecht auf dem Papier und vor allem in der Praxis zu verbessern.
Corona hat Handlungsdruck geschaffen
Was lässt sich also aus der historischen Betrachtung schlussfolgern? Auf jeden Fall eines: Die Corona-Pandemie hat kurzfristig enormen politischen Handlungsdruck geschaffen. Dies begünstigt zunächst kurzfristig zu verwirklichende Lösungen. Es ist davon auszugehen, dass im Falle einer schnellen und breiten Bereitstellung eines Impfstoffes Corona rasch wieder aus den Nachrichten verschwindet und aktuellere Themen das politische und mediale Geschehen bestimmen werden. Das durch die Pandemie ausgelöste „window of opportunity“ für grundlegende Reformen wird sich dann rasch schließen.
Entscheidend wird sein, ob der Elan auch für komplexere, langfristig orientierte Neuerungen reicht und auch solche notwendigen Reformen auf den Weg gebracht werden, die nicht mit dem unmittelbaren epidemiologischen Geschehen in Verbindung stehen.
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ist Historiker und Politikwissenschaftler am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen. Er ist Mitglied des Geschichtsforums beim SPD-Parteivorstand.