Delara Burkhardt: Wie die EU bis 2050 klimaneutral werden kann
imago images/STAR-MEDIA
Nachdem das Europäische Parlament im November 2019 den Klimanotstand ausgerufen hat, gab es zahlreiche Diskussionen und Untersuchungen darüber, wie unser heutiger Lebensstil dazu beigetragen hat und weiterhin beiträgt, dass sich das Klima erhitzt und das ökologische Gleichgewicht aus den Fugen gerät. Während einige den Klimawandel standhaft leugnen, oder den Status Quo verteidigen, herrscht bei vielen inzwischen Einigkeit darüber, dass ein „Weiter wie bisher“ keine Option ist.
Hunderttausende Jugendliche gehen auf die Straßen, weil sie wissen, dass wir heute die Kippunkte erreichen, die über den Erhalt unseres Klimas und ihre Zukunft bestimmen. Wer dachte, die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen kurzfristigen Emissionsrückgänge brächten eine „Erholungsphase“ für das Klima, muss einsehen, dass wir in ein paar Monaten nicht die Umweltschäden von Jahrzehnten ausgleichen können.
Ein europäisches Klimagesetz braucht Ambitionen statt Minimalkonsens
Auch wenn die Pandemie und ihre weitreichenden Auswirkungen die politische Agenda in den vergangenen Monaten maßgeblich bestimmt haben, so herrscht doch weiterhin ein breiter Konsens, dass auch der Klimanotstand eines raschen Handelns bedarf. Das haben auch die meisten Fraktionen im Europäischen Parlament, die Europäische Kommission und die Regierungen zahlreicher Mitgliedstaaten verstanden. Der in zahlreichen Erklärungen festgehaltene politische Wille, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen, könnte schon bald auch gesetzlich festgeschrieben sein.
Der jüngst vom Europäischen Parlament angenommene Vorschlag für ein europäisches Klimagesetz sieht neben der verbindlichen Klimaneutralität bis 2050 auch ein CO2-Einsparungsziel von 60 Prozent bis 2030, ein EU-Treibhausgasbudget und die Einführung eines unabhängigen EU-Klimarates vor, der die EU-Klimapolitik wissenschaftlich begleiten und beraten soll.
In diesen Punkten konnten wir Sozialdemokrat*innen sinnvolle Kompromisse mit anderen Fraktionen erzielen, die den Kommissionsvorschlag enorm verbessern. Am strittigsten war die Festlegung des neuen Zwischenziels für CO2-Einsparungen für 2030.
Von der Leyens Mogelpackung
In ihrer Rede zur Lage der Union hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, dass Klimaziel auf „mindestens 55 Prozent“ anheben zu wollen. Was erst mal wie ein Schritt in die richtige Richtung klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung aber als Mogelpackung. Denn die Kommission schlägt die 55 Prozent als Netto-Ziel vor. Das heißt, dass auch Treibhausgas-Senken wie Wälder und Moore, die der Atmosphäre Treibhausgase entziehen und speichern, in dieses Ziel eingerechnet werden. Diese Senken machen ungefähr zwei bis drei Prozent aus und wurden bisher nicht in die EU-Klimaziele mit eingerechnet.
Dabei muss man betonen, dass die Kommission davon ausgeht, dass schon mit den jetzt existierenden EU-Klimagesetzgebungen das bisherige Ziel von 40 Prozent übertroffen wird, und die EU, ohne Mehraufwand, Einsparungen von 45 Prozent erreichen kann. Der Klima-Think-Tank Sandbag kommt unter Einbeziehung der letzten Kohleausstiegspläne verschiedener EU-Länder gar zu dem Schluss, dass die EU bereits auf dem Weg ist, 50 Prozent einzusparen.
Zudem geht aus Berechnungen des UN-Umweltprogramms in ihrem „Gap-Report“ hervor, dass die EU eigentlich ein Ziel von ungefähr 65 Prozent Einsparungen bräuchte, um die Pariser Klimaziele zu erreichen und die Erderhitzung auf möglichst 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.
Unsere sozialdemokratische Berichterstatterin Jytte Guteland aus Schweden hatte ursprünglich vorgeschlagen, dass das EU-Klimaziel für 2030 auf 65 Prozent angehoben werden solle. Dafür gab es allerdings keine Mehrheit, weshalb sich die sozialdemokratische Fraktion, Liberale, Grüne und Linke auf ein Kompromissziel von 60 Prozent verständigt haben. Dieser Vorschlag konnte in der Plenarabstimmung am 7. Oktober die Mehrheit der Europaabgeordneten auf sich vereinen.
Notwendige Kraftanstrengungen
Die Anhebung des Klimaziels bedeutet große Kraftanstrengungen. Diese sind aber nötig, um bis 2030 einen angemessenen Beitrag zu leisten auf dem Pfad zur Klimaneutralität bis 2050.
Dabei ist es wichtig, dass Klimaziele nicht isoliert betrachtet werden. Sie müssen struktur-, industrie-, wirtschafts- und sozialpolitisch begleitet werden. Um soziale Umbrüche zu vermeiden, braucht es ergänzende EU-Projekte und Instrumente, etwa einen Fonds für einen gerechten Übergang, der Kohleregionen beim Kohleausstieg unterstützen soll. Ebenso ist eine EU-Renovierungs-Welle notwendig, damit es sich die Menschen leisten können, ihre Wohnungen ausreichend zu heizen, und auch die CO2-Grenzsteuer für Importe aus Ländern mit weniger strengen Klimaauflagen, um die EU-Industrie vor unfairem Wettbewerb zu schützen.
Die Kommission empfiehlt zudem, Einnahmen durch CO2-Bepreisung zu nutzen, um Steuern auf Arbeit zu senken, um Impulse für die Wirtschaft zu setzen oder diese Einnahmen an die Bürger*innen auszuzahlen. Das war auch ursprünglich eine der Forderungen der SPD im deutschen Klimapaket, war aber so nicht mit der CDU zu machen. Mit der Reform der EEG-Umlage soll aber ein ähnlicher Effekt erzielt werden.
Mit den Regierungen Europas können wir verhandeln, mit dem Klima nicht
Nun tritt das Europäische Parlament mit dieser Position mit dem Rat der EU-Umweltminister*innen in Verhandlungen. Beide Seiten müssen sich letztlich auf eine gemeinsame Position einigen. Bundesumweltministerin Svenja Schulze, die in diesem Halbjahr dem Kreis der EU-Umweltminister*innen vorsitzt, hat angekündigt, dass die deutsche Ratspräsidentschaft das EU-Klimagesetz noch dieses Jahr zum Abschluss bringen möchte.
Der klare Zuspruch des Europäischen Parlaments ist nicht nur ein wichtiges politisches Signal, sondern stärkt auch die Verhandlungsposition des Parlaments gegenüber den Mitgliedstaaten. Wir dürfen das Spielfeld nicht Klimaschutzverhinder*innen wie der polnischen oder tschechischen Regierung überlassen, die zwar das langfristige Ziel der Klimaneutralität grundsätzlich unterstützen, aber nicht bereit sind, kurz- und mittelfristig auf dem Weg dahin mehr Anstrengungen zu unternehmen. Das Ziel der Klimaneutralität darf kein Lippenbekenntnis bleiben, sondern muss durch konkrete Zwischenschritten untermauert werden.
Das Parlament hat die Chance genutzt, einen Grundstein für ein Umdenken in unserer heutigen Klimapolitik zu legen. Nun müssen die Mitgliedstaaten sich ebenfalls für das Klima entscheiden.
Dirk Bleicker
ist erste stellvertretende Vorsitzende der Delegation für Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo im Europäischen Parlament.