
Manche Verse Selma Merbaums erinnern an die von ihr verehrten Dichter Rilke und Trakl, Romain Rolland oder Stefan Zweig. Und doch haben Merbaums Verse einen eigenen Rhythmus und eine eigene Sprache. Sie war eine Cousine Paul Celans. Mit ihm war sie in einer zionistisch-sozialistischen Jugendgruppe aktiv, zu Hause in Czernowitz. Am 16. Dezember 1942 starb Merbaum im ukrainischen NS-Zwangsarbeitslager Michailowka, kurz vor dessen Befreiung durch die Rote Armee, am Flecktyphus. Sie wurde nur 18 Jahre alt.
Kurz vor ihrem Ende schrieb sie: „Ich möchte leben. / Ich möchte lachen und Lasten heben / und möchte kämpfen und lieben und haßen / und möchte den Himmel mit Händen faßen / und möchte frei sein und atmen und schrei’n. / Ich will nicht sterben. Nein: / Nein.“
58 Gedichte sind überliefert
58 ihrer handschriftlichen hinterlassenen Gedichte existieren noch und Marion Tauschwitz hat sie transkribiert. Eine Stärke des Buches liegt darin, dass die Autorin im biographischen Teil immer wieder aus Merbaums Gedichten zitiert und auf ihren vollständigen Abdruck weiter hinten verweisen kann. Selma Merbaum wird wie der vier Jahre ältere Celan und Rose Ausländer heute zur Weltliteratur gezählt.
Czernowitz und die Bukowina, lange Zeit zu Österreich-Ungarn gehörig, später zu Rumänien und zur Ukraine, dann zur UdSSR, war ein Zentrum der europäischen und maßgeblich von jüdischen Intellektuellen geprägten Kultur. Sie ist in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern untergegangen. Anrührend, wie Merbaum, Celan und ihre Freunde ihre Hoffnungen auf die klassenlose Gesellschaft und auf das Ende jeglicher Unterdrückung setzten, am Ende aber bitter enttäuscht wurden.
„Welch Wort in die Kälte gerufen“
Pogrome in dichter Folge: In der Nacht zum 13. Juni 1941 werden über 2.000 Juden von den Sowjets nach Sibirien verschleppt, Anfang Juli richteten die wieder einrückenden Rumänen ein Blutbad an, und im selben Monat beginnen die Verschickungen in die Todeslager des „Dritten Reiches“. Merbaums Gedicht „Poem“, das in jenem Monat geschrieben wurde, entdeckte der DDR-Schriftsteller Heinz Seydel bei seinen Recherchen, deren Ergebnis der Verlag der Nation 1968 veröffentlichte: „Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des dritten Reiches im deutschen Gedicht“.
Marion Tauschwitz hat ein faszinierendes, erschütterndes und unbedingt lesenswertes Buch geschrieben. Und sie hat das bekannte Gesamtwerk Selma Merbaums zugänglich gemacht. Marion Tauschwitz: „Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“, Verlag zu Klampen, Berlin 2014, 349 Seiten, 28,00 Euro. ISBN 978-3-86674-404-2