
Ach, die Linke in Europa. Sie möchte so gerne auf der Seite der Guten stehen, moralisch richtig handeln, die Mühseligen und Beladenen aufnehmen. Und selbstverständlich hat sie dafür gute Argumente, auch jenseits der humanitären. Doch praktisch in allen Ländern Europas müssen die Mitte-Links-Parteien die Erfahrung machen, dass viele ihrer Mitglieder und potenziellen Wähler sich verweigern. Skepsis, Angst vor Überfremdung, vor Terrorismus und steigender Kriminalität, vor der Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt scheinen über die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft zu siegen. So stellt sich besonders für linke, schon durch ihre Geschichte international ausgerichtete Parteien die Frage: Moralisch sauber bleiben – und dafür mit Machtlosigkeit bestraft werden? Oder die Ängste der „Ureinwohner“ ernst nehmen und akzeptieren, dass Integration nur gelingen kann, wenn die Migration gesteuert wird?
Asylrecht ohne Wenn und Aber
Michael Bröning, Referatsleiter Politikanalyse bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ist zusammen mit Christoph P. Mohr Herausgeber des so spannenden wie klugen Buchs „Flucht, Migration und die Linke in Europa“. Das Dilemma der sozialdemokratisch orientierten Parteien in zwölf europäischen Ländern wird facettenreich und meinungsfreudig von fachkundigen Autoren beschrieben.
Internationalität, Solidarität und Humanismus über Landesgrenzen hinweg gehören praktisch zum genetischen Grundprogramm der Linken. In vielen Familien ist die Erinnerung an Flucht vor Verfolgung und an die Vertreibungen nach Ende des zweiten Weltkriegs noch lebendig. Auch deshalb haben die Verfassungsväter und -mütter ein Asylrecht ohne Wenn und Aber in das Grundgesetz geschrieben. Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war das unumstritten. Erst durch die Flüchtlingswellen während der Balkankriege veränderte sich die Diskussion.
Mitte-Links-Parteien zahlen hohen Preis
Was heute gern verdrängt wird in all den Debatten: Auch innerhalb der Europäischen Union gibt es neben den Ländern mit hohen Migrantenraten immer noch Auswanderungsländer – siehe Polen. Die rechte Regierung aber verweigert wie die ungarische die Aufnahme von Flüchtigen, obwohl beispielsweise polnische Handwerker und polnische Altenpflegerinnen überall in Europa ihr Geld verdienen. Man könnte sie klassische Wirtschaftsflüchtlinge nennen. Der Umgang mit Migration ist wahlentscheidend geworden in vielen Ländern – und zwar auch in jenen, die praktisch keine Flüchtlinge aufgenommen haben und sich auch als EU-Mitglieder weigern, die gemeinsam vereinbarten Quoten zu erfüllen.
Michael Bröning schreibt dazu: „Beim Brexit-Votum, in Frankreich, den Niederlanden aber auch in Österreich, in der Schweiz, in Schweden, Polen und Ungarn erinnerten Wahlen zuletzt an Plebiszite über offene oder geschlossene Grenzen.“ Gerade progressive Parteien zahlen hier einen hohen Preis: Sie sind traditionelll international ausgerichtet, ihre Wählerschaft aber teilt sich inzwischen in Migrationsskeptiker und weltoffene Humanisten. Das Ergebnis: Wie immer sich Parteien links der Mitte positionieren, sie verlieren einen Teil ihrer Wählerschaft. Dies gilt, so Bröning, für zehn von zwölf näher untersuchten Ländern. In Deutschland verlaufen die Diskussionen, trotz sehr hoher Zuwanderungsraten, bisher vergleichsweise maßvoll. Das mag auch daran liegen, dass die Parteien (mit Ausnahme der AfD) auf populistische Sprüche weitgehend verzichten.
Offene, tabufreie Debatte notwendig
Einer der interessantesten Beiträge im Buch stammt von Ahmad Mansour, einem israelischen Araber, der seit zwölf Jahren in Deutschland lebt. Der bekannte Psychologe beschreibt, was viele Linke aus Angst vor Beifall aus der falschen Ecke gerne ignorieren: „Für viele sind oder waren das Ankunftsland und dessen Gesetze und freie Gewohnheiten fremd und teils bedrohlich. ...Sich selbst ausgrenzend erleben sich diese Menschen als ausgegrenzt und suchen die Sündenböcke dafür in der Merheitsgesellschaft, der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat.“ Mansour fordert eine offene, tabufreie Debatte, denn nur sie wird seiner Meinung nach sowohl Rechtsradikale als auch Islamisten schwächen.
Einen wichtigen Aspekt hat der niederländische Professor für Europäische Studien, Paul Schaffer, in die Debatte eingebracht. Nach seiner Meinung ist der Ruf nach geschlossenen Grenzen eine Antwort auf die Globalisierung, die viele Menschen ängstigt, weil sie sich machtlos ausgeliefert fühlen. Ihre Parole lautet „Taking back control“. Und was bedeutet das für die zerrissenen linken Parteien Europas? Die Antworten in diesem Buch sind vielstimmig, weitgehend Einigkeit herrscht vor allem in einem Punkt: Integration muss im Mittelpunkt der Politik stehen, Migration mehr als heute gesteuert werden.
„Flucht, Migration und die Linke in Europa“ herausgegeben von Michael Bröning und Christoph P. Mohr. Dietz Verlag Bonn, 400 Seiten, 26 Euro.Infos zum Buch