1848 war das Jahr, als die Deutschen die Freiheit entdeckten. Zuvor hatten die französische Juli-Revolution, der Novemberaufstand in Polen und das Hambacher Fest in der Rheinpfalz das politische, der Weberaufstand in Schlesien, die Verarmung der Massen durch die Industrialisierung und die Kartoffelrevolution von Berlin das soziale Bewusstsein geschärft. Im Deutschen Bund wurde der Drang nach Demokratie und Einheit immer größer – gegen das deutsche Kaiserreich, das Reich der Reichen und der Arroganz der Macht. Selbstbewusst hieß es: „Durch Europa brechen wir der Freiheit eine Gasse!“
Emma Herwegh mit Dolch und in Männerkleidern
In dieser Zeit spielt Dirk Kurbjuweits Roman: Die Freiheit der Emma Herwegh. Kurbjuweit, stellvertretender Chefredakteur und führender Kopf des „Spiegel“, schreibt über die wildbewegte Geschichte der deutschen Revolutionärin Emma Siegmund (10. Mai 1817 – 24. März 1904), die in Männerkleidern bewaffnet mit zwei Pistolen und einem Dolch im Gürtel für Freiheit, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit ihr Leben wagte. Und die über alle Affären hinweg von der Unverbrüchlichkeit ihrer Liebe mit Georg Herwegh (31. Mai 1817 – 7. April 1875) überzeugt war.
Der Arbeiterdichter Herwegh schrieb 1861 das Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV): „Mann der Arbeit aufgewacht! Und erkenne deine Macht!/Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Emma, Tochter eines wohlhabenden Hoflieferanten aus Berlin, war eine starke Frau von rebellischer Kraft, wahrscheinlich stärker als Georg, aber sie konnte politisch nur wirken, weil sie einen politischen Mann hatte und später einen politischen Geliebten, den italienischen Revolutionär Felice Orsini.
Gegen Duckmäuser und Aufsteiger
Emma wuchs vis à vis dem Berliner Schloss auf, beherrschte sieben Sprachen, musizierte, zeichnete und schrieb Gedichte. Aber sie fühlte sich in ihren Kreisen immer weniger zu Hause. Sie kümmerte sich um die Elendsviertel Berlins und betreute Freiheitskämpfer im preußischen Gefängnis. Sie kämpfte gegen die Obrigkeit und für Frauenrechte. Ihr waren „die Duckmäuser und Aufsteiger, das sogenannte juste milieu, diese Zwitternaturen, halb liberal, halb royal“ zuwider. Ein Zurück hinter die epochalen Ideen der Französischen Revolution konnte sie sich nicht vorstellen.
Emma war sofort Feuer und Flamme für Herweghs zuerst anonym erschienenen Gedichte eines Lebendigen: „Und wo es noch Tyrannen gibt, die lasst uns keck erfassen!/Wir haben lang genug geliebt, wir wollen endlich hassen.“ Zu den begeisterten Lesern gehörten auch Theodor Fontane, Gottfried Keller und Karl Marx. Rasend schnell machte sich der Namenlose einen Namen. Emma wollte mit dem Dichter zusammen sein, im November 1842 arrangierte sie ein Treffen in Berlin. Kurze Zeit später heiratete das Paar in Paris, ausgestattet mit einer üppigen Mitgift. Die geplante Wohngemeinschaft mit Jenny und Karl Marx und dem Ehepaar Ruge kam zwar nicht zustande, dennoch blühte der Salon der Herweghs schon bald auf.
Was für ein wildes Leben
Kurbjuweit beschreibt in neun Kapiteln das wilde Leben der Emma Herwegh, in dem sich ein europäisches Jahrhundert versammelte: Heinrich Heine, Richard Wagner, Michail Bakunin, Bettina von Arnim, Iwan Turgenjew, Karl Marx, Victor Hugo, Giuseppe Garibaldi, Friedrich Hecker, Franz Liszt, Georg Feuerbach, George Sand, Gottfried Semper und viele andere. Im Zentrum steht das Frühjahr des Revolutionsjahres 1848. Im Februar und März überschlugen sich die Ereignisse. Zuerst wurde in Paris König Louis-Philippe weggefegt, dann in Wien Fürst Metternich. Auch in Berlin brannten Barrikaden, junge Arbeiter standen in der ersten Reihe.
Nach zwei Hungerjahren und wachsender Arbeitslosigkeit verknüpften sich die Forderungen des Bürgertums mit dem Klassenkampf. Republikaner und Arbeiter machten gemeinsame Sache gegen das Regime. In den liberalen „Märzforderungen“ ging es nicht mehr allein um einzelne Gesetze, sondern um die Gesellschaft insgesamt. Das wurde dann aber zur Bruchlinie. Die Besitzenden und auch die von ihnen, die für politische Freiheit und Menschenrechte eintraten, fürchteten die Ansprüche der unteren Klassen. Sie wollten eine bürgerliche Revolution, keine wie in Frankreich, wo die Februarrevolution auch soziale Gerechtigkeit schaffen wollte. Doch schnell endete die Poesie, die Bourgeoisie holte sich die Macht mit brutaler Gewalt zurück.
Die deutsche Revolution scheitert
Die deutsche Revolution hielt nicht lange, das deutsche Bürgertum kehrte schon bald in den Schoß der Obrigkeit zurück. Als sich im Großherzogtum Baden der Grundkonflikt zuspitzte – Anhänger der konstitutionellen Monarchie auf der einen, Republikaner auf der anderen Seite – gründeten Emigranten in Paris die Deutsche Demokratische Legion und wählten Georg Herwegh an die Spitze. Gegen alle Ratschläge von Karl Marx und Friedrich Engels eilte die Legion an den Rhein, wo es von mehr als 60.000 deutschen Emigranten nur noch 649 Mann und seine Frau waren, die Friedrich Hecker beistehen wollten. Auch hier war sie eine starke Frau. Emma diente als Kundschafterin hinter den feindlichen Linien und wurde schließlich für eine Nacht sogar zur Truppenführerin.
Doch die Hilfe kam zu spät, die Hetzkampagne gegen die deutsche Legion zeigte Wirkung. Hecker, der gezögert hatte, die Hilfe anzunehmen, war schon geschlagen. Nur knapp gelingt den Herweghs die Flucht, obwohl 4000 Gulden auf Georgs Kopf ausgesetzt waren. Das revolutionäre Abenteuer war vorbei. Der Niederlage folgte die Rache, auch in der eigenen Familie. Emma wurde enterbt, Georg lächerlich gemacht. Dennoch lebte der Salon der Herweghs weiter.
Versuch der freien Liebe
Drei Kapitel im Buch sind Gespräche, geführt in Emmas ärmlicher Pariser Mansardenwohnung, mit dem jungen deutschen Schriftsteller Frank Wedekind, der hier Benjamin Franklin heißt. Emma las aus Briefen vor und aus ihrem Tagebuch, das sie fleißig führte. Der spätere Herausgeber der Satirezeitschrift Simplicissimus kam fast täglich, bevor er zur Liebe und zu den Frauen ging, zu Alice, Marie Louise, Lulu und vielen anderen. Wedekind wurde von Emma mit Datteln, Marzipan, Rum und Zigaretten verwöhnt, um einen kleinen Betrag auszuleihen. Er kam aus dem Staunen nicht heraus, bewunderte ihre Konsequenz. In diesen Kapiteln wird der Roman zum Kammerspiel über die Liebe. Die Revolution und ihre sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge rücken in den Hintergrund.
Franklin bzw. Wedekind interessiert sich vor allem für das komplizierte Verhältnis zwischen Emma, Georg und der bildhübschen Natalie Herzen, die Herwegh liebeskrank machte. Die freie Liebe gab es nicht, auch wenn sie zur Freiheit erhoben wurde. Natalies Mann Alexander Herzen, russischer Schriftsteller und Philosoph, war lange Zeit Georgs brüderlicher Freund. Er bot den verarmten Herweghs Unterkunft, bis er Georgs Liebschaft mit seiner Frau mitbekam. Herzen kündigte die Freundschaft und drohte mit einem Duell.
Kampf und Leidenschaft
Zwei Jahre hielten Georg und Emma getrennt voneinander aus, ab Mai 1853 lebten sie wieder zusammen. Emma blieb ihren Idealen treu, wurde sogar noch radikaler. Später soll sie ein Liebesverhältnis mit ihrem Verehrer Orsini gehabt haben, wie alle Welt vermutete. Dem italienischen Revolutionär und Bombenleger, der zwei Jahre später nach einem Attentat auf Napoleon III. unter das Fallbeil kam, half sie zuvor mit eingeschmuggeltem Opium und Feilen zum Ausbruch aus dem Kerker von Mantua.
Kurbjuweit beschreibt das Leben der Emma Herwegh aus größter Nähe, aus der Perspektive einer großen Liebe – mit Dokumenten der Hingabe und Schwärmerei. Das Buch bietet einen sehr persönlichen Zugang zur deutschen Revolution, die nicht zuletzt zur Gründungsgeschichte der Sozialdemokratie gehört.
Was wir daraus lernen für heute gegen die neue Restauration von rechts, die auch unser Land erschüttert: Die Demokratie braucht Anstand und Haltung, braucht das Bündnis zwischen Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum, heute vor allem zwischen Gewerkschaften und Umweltbewegung, die wir beide für eine sozial-ökologische Transformation brauchen. Denn nur so kann sie möglich werden.
Dirk Kurbjuweit: Die Freiheit der Emma Herwegh Hanser Verlag München 2017, 23 Euro