
„Ich hatte andere Möglichkeiten, aber ich wollte Nazi werden“, schreibt Christian Ernst Weißgerber offenherzig. Der heute 30-Jährige gehörte vor rund zehn Jahren der rechtsextremen Szene in Südthüringen an. Weißgerber führte mit 18 Jahren eine Jugendorganisation nach nationalsozialistischem Vorbild, später war er Teil der „Autonomen Nationalisten“ und schuf Strukturen, auf denen in den folgenden Jahren etwa die Identitären oder die AfD aufbauen konnten.
Verantwortung übernehmen
2011 zog sich Weißgerber aus der rechten Szene zurück, wobei ein Ausstieg für ihn niemals vollständig abgeschlossen ist, wie er vor knapp eineinhalb Jahren im Interview mit dem „vorwärts“ sagte. Aussteiger*innen müssten sich nicht nur zurückziehen und deradikalisieren, sondern auch „verstehen, dass ihre Handlungen in der Szene weiterwirken, nachdem sie ausgestiegen sind“. Entsprechend ist Ex-Nazi Weißgerber heute als Bildungsreferent tätig, klärt in Schulen, Universitäten und bei Abendveranstaltungen über die rechtsextreme Szene und ihre moderateren Vertreter*innen auf.
Seine 2019 erschienene Autobiographie „Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war“ ist zum einen die Aufarbeitung seiner eigenen Vergangenheit. Darüber hinaus befasst sich Weißgerber aber auch intensiv mit den Strukturen der Rechtsextremen und neuen Rechten in Südthüringen, die insbesondere im Kontext der kürzlich erfolgten Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD von Interesse sind. Dabei stellt Weißgerber klar, dass er kein weiterer Ex-Nazi sein wolle, „der im Büßergewand seine Vergangenheit rechtfertigt und im moralisierenden Singsang auf die Gefahren rechtsextremer Weltanschauungen hinweist“. Stattdessen wolle er mit seinem Buch Verantwortung übernehmen, in dem er sich aktiv gegen das stellt, woran er jahrelang mitgewirkt habe.
Als Nazi in der Bundeswehr
Er schreibt ausführlich darüber, wie er in Eisenach nahe der Wartburg mit einem gewalttätigen Vater aufwächst. Auf der Suche nach Zärtlichkeit entdeckt er seine Faszination für das Familienbild des historischen Nationalsozialismus. Nazi zu werden, war für ihn eine Form des Aufbegehrens, wie Weißgerber später sagte. Über eine Klassenkameradin knüpft er Kontakte zur rechten Szene, besucht Rechtsrockkonzerte und gründet 2007 eine Jugendorganisation, die er nach dem Führer-Prinzip leitet. Seine Schilderungen aus dieser Zeit erscheinen als Mischung aus romantischem Kitsch und erschreckender Verklärung der NS-Ideologie. Nach dem Motto „Führer befiehl, wir folgen dir“ wanderten seine Anhänger*innen – zwei Frauen waren auch darunter – mit Weißgerber durchs Thüringer Mittelgebirge und sangen völkische Lieder mit Blick auf die Wartburg.
Erschreckend wirken auch die Beschreibungen aus Weißgerbers Zeit bei der Bundeswehr. Zwar führten Ermittlungen des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) dazu, dass er letztlich aus dem Dienst entlassen wurde. Doch zuvor fand Weißgerber mit seinen rechtsextremen Äußerungen nicht nur bei Kameraden, sondern teilweise auch bei Vorgesetzten durchaus Anklang. Zuletzt berichteten Ende Januar auch mehrere Medien von hunderten Rechtsextremen in der Bundeswehr.
Strukturen geschaffen, auf denen die AfD aufbaut
2011 stieg Weißgerber aus der Szene aus. Erst zwei Jahre später gründete sich die rechtsextreme AfD. Insofern hatte der Ex-Nazi bei seinem Wirken in Eisenach, Gotha oder Jena noch nicht direkt mit der Partei zu tun. Er arbeitete jedoch bereits damals mit zentralen Figuren der neuen Rechten wie Götz Kubitschek oder Jürgen Elsässer zusammen. Kubitschek gilt als einer der führenden Köpfe in der rechten Szene und unterhält enge Kontakte zum nationalen Flügel der AfD. Elsässer ist seit 2010 Chefredakteur des Monatsmagazins „Compact“, das seit einigen Jahren gewissermaßen als Wahlkampforgan der AfD fungiert. Auch mit Ralf Wohlleben, dem engsten Vertrauten des NSU-Terrortrios, war Weißgerber während seiner Nazi-Zeit gut bekannt.
Interessant ist Weißgerbers Autobiographie auch deshalb, weil er darin die rhetorischen Muster der rechten Szene sehr genau analysiert. Was zu seiner Zeit die Argumentationsmuster der sogenannten autonomen Nationalisten waren, dient heute vielfach als inhaltliche Leitlinie für Björn Höckes AfD. Beispielsweise wenn diese vom „Genderwahn“ spricht oder versucht, die Erinnerungsarbeit von Gedenkstätten wie der in Buchenwald lächerlich zu machen. Passend dazu schreibt Weißgerber: „Was uns nicht gelang, wird gegenwärtig recht erfolgreich durch die nationalpopulistischen Strömungen aller Couleur betrieben, die eifrig am Rechtsruck der Gesellschaft mitarbeiten. Sie profitieren heute auch von Strukturen und Ideen, die damals aufgebaut wurden.“ Wenn am Sonntag Landtagswahlen in Thüringen wären, würde die AfD Umfragen zufolge bei 25 Prozent landen.
Weißgerber, Christian Ernst: Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war. orell füssli. 2019