
Wenn dieser Tage behauptet wird, die Flüchtlingskrise würde Deutschland überfordern, entsteht schnell der Eindruck, dass völlig neue Herausforderungen auf das Land warten. Doch dem ist nicht so. Deutschland war sowohl vor als auch nach der Wiedervereinigung immer wieder das Ziel von Flüchtlingen. In der gegenwärtigen – von Rechtpopulisten zusätzlich angefachten – Hysterie wird dieser Erfahrungsschatz allzu häufig ignoriert.
Einer, der davon Zeugnis geben konnte, war Rupert Neudeck. Der Journalist und Menschrechtsaktivist, vergangenen Mai im Alter von 77 Jahren gestorben, widmete sein Leben der Rettung flüchtender Menschen. Denn Neudeck war einst selbst einer von ihnen, wie er im Buch beschreibt. Geboren in Danzig, floh er als Kind mit seiner Familie nach Westen und entging nur durch Zufall dem Untergang der Wilhelm Gustloff.
Rückkehr alter Argumente
Bekannt wurde der damalige Journalist des Deutschlandfunks 1979: Mit Heinrich Bölls Unterstützung sammelte er Spenden und charterte ein Schiff, um vietnamesische Flüchtlinge aus dem indischen Ozean zu retten. Über 11.000 Menschen bewahrte er so vor dem Tod.
Dennoch bewertet Neudeck die Rettungsaktionen rückblickend nicht als Erfolg, denn weitaus mehr Menschen seien damals ertrunken oder ausgeraubt worden. Er beschreibt die damaligen, zähen Auseinandersetzungen mit deutschen Politikern und Behörden. Ihre Argumente waren damals die gleichen wie heute.
So zitiert Neudeck aus einem Schreiben des damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein Westfalen, Johannes Rau, „die steil angestiegenen Zahlen von – in der Mehrzahl unberechtigt – Asylsuchenden“ hätte die „Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen eingeschränkt“. Bald darauf folgte das Ende der Rettungsaktion.
Aufgaben für Europa
Für Neudeck, der dafür plädiert, auch Wirtschaftsflüchtlinge nach Europa zu lassen, ist dieses Agieren unverständlich. Dabei sagt er klar, dass Deutschland nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen könne. Was auch nicht nötig sei, würde Europa sich darauf konzentrieren, faire Handelsverträge und lokale Bildungsmöglichkeiten für wirtschaftlich schwache Staaten zu schaffen.
Allerdings belässt es Neudeck dabei, einige Fluchtursachen zu benennen und die Situation ausgewählter Herkunftsregionen wie Kurdistan, Eritrea oder Afghanistan kurz zu schildern. Auf das Geschäft der Schlepper etwa geht er mit keinem Wort ein. Dem Menschenrechtsaktivisten geht es aber auch nicht um eine Analyse der Krise. Vielmehr versteht er seine Schilderungen als Appell für eine rigorose Menschlichkeit, an der es die Europäische Union aus seiner Sicht massiv vermissen lässt.
Forderung nach Integrationsbereitschaft
Zu Recht kritisiert Neudeck, dass Flüchtlinge bis zur Klärung ihres Asylstatus zum Nichtstun verdammt sind. Um dem zu begegnen fordert er die Schaffung gemeinnütziger Tätigkeiten – die von ihm allerdings nicht als Angebot, sondern als Verpflichtung gedacht werden. Neudeck spricht sich dafür aus, Flüchtlingen nach ihrer Ankunft klare Aufgaben zu übertragen, wie etwa Deutsch zu lernen oder die Unterkünfte zu reinigen.
Er meint, wer in Deutschland Asyl beantragt, müsse auch eine klare Integrationsbereitschaft mitbringen. Der Aktivist sagt nicht wie Staat und Gesellschaft sich verhalten sollen, wenn diese Bereitschaft nicht vorhanden ist. Wohl aber beschreibt er, wie diese gefördert werden könnte: Etwa indem man die Vorrangprüfung streicht, nach der Menschen mit Asylstatus nur dann einen Arbeitsplatz bekommen, wenn kein deutscher Staatsbürger infrage kommt.
Pragmatischer Einsatz für Menschenrechte
Neudeck wird nicht müde, die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung zu betonen. Letztlich setzt er ohnehin nicht auf Politik und Behörden, sondern eher auf Engagement – das die staatlichen Regulierungen oft behindern. Als er und seine Frau zu Beginn dieses Jahres einen Flüchtling aufnehmen, müssen sie sich durch einen Behördendschungel kämpfen. Obwohl der Asylstatus ihres Schützlings noch unklar ist und behördliche Erlaubnisse fehlen, erhält er schon bald eine Steuernummer.
Einem Pragmatiker wie Neudeck muss das besonders unsinnig erschienen sein. Jemandem wie ihm, der sofort anpackte, wenn es galt, Menschen ein würdevolles Dasein zu schaffen – oder ihr Leben zu retten.
Rupert Neudeck, In uns allen steckt ein Flüchtling, C.H. Beck, München 2016, 169 Seiten, ISBN 978-3-406-69920-7, 14,95 Euro.