
Eine eigenartige Gleichzeitigkeit von widersprüchlichen Entwicklungen findet gerade in Europa statt. Einerseits sind die Krisen, die die EU im vergangenen Jahrzehnt erschüttert haben, alles andere als überwunden. Die Eurozone ist nicht dauerhaft stabilisiert, eine gemeinsame Migrationspolitik in weiter Ferne und die soziale Spaltung in der EU nimmt weiter zu. Und zugleich bewerten so viele Menschen wie nie die EU und die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU positiv. Mit der EU sind – trotz aller Schwierigkeiten – offenbar große Hoffnungen verbunden. Wie kann es gelingen, die Hoffnungen einzulösen in einer Zeit ständiger Krisen des Integrationsprojekts?
Wie politisches Gestalten in und mit der EU gelingen kann
Die Antwort des Berliner Ökonomen Björn Hacker ist ebenso klar wie einleuchtend: „Weniger Markt. Mehr Politik.“ So lautet der programmatische Titel des 2018 im Bonner Dietz-Verlag erschienenen Bandes. Hacker beschreibt hier den gegenwärtigen Stand der europäischen Integration in seinem Wechsel aus Krisen und kleinschrittiger Krisenbewältigung ebenso wie die Geschichte hin zur aktuellen Situation. Diese ist davon geprägt, dass wesentliche Vertiefungen der Integration in einer Hochphase des Neoliberalismus stattfanden. Die gegenwärtige Union ist entsprechend an vielen Stellen zu marktgläubig und unfähig, ausreichend politisch zu gestalten. Kernanliegen des Buchs ist aufzuzeigen, wie politisches Gestalten in und mit der EU gelingen kann, um den Hoffnungen ihrer Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden.
Dabei zeigt Hacker, dass die europäische Einigung alles andere als unumstritten ist. Deutlich wird das in seiner Analyse der Vorstellungen der sogenannten „Neuen Rechten“. Für sie ist die europäische Einigung zum Symbol alles Ungewollten geworden. Nicht nur, weil sie den Nationalstaaten die Übertragung von Kompetenzen an eine über-nationale Struktur abverlangt, sondern auch, weil sich mit ihr ein vermeintliches Elitenkartell in Brüssel verbindet und sie für die klassischen Versprechen der liberalen Demokratie steht: freie Wahlen, Menschen- und Bürgerrechte, Meinungsfreiheit. Sie setzen diesem Modell eine vergangenheitsbezogene Vorstellung abgeschotteter Volksgemeinschaften entgegen.
Die Ratlosigkeit der Linken
Aber auch von linker Seite gibt es Kritik: Wolfgang Streecks Forderung nach einer Rückkehr in einen begrenzten nationalstaatlichen Protektionismus und die Überwindung des Euros als ein „neoliberales Entdemokratisierungsobjekt“ ist Beispiel dafür. Oder die französische Bewegung von Jean-Luc Mélenchon, die einen Ausstieg aus allen europäischen Verträgen vorsieht, falls Europa sich nicht den radikalen Reformvorstellungen Mélenchons anpasse. Die mitunter bei Sozialdemokraten und Linken zu findende Übernahme rechtspopulistischer Forderungen verweist – so analysiert Hacker treffend – auf eine eigene Ratlosigkeit. Schließlich waren es auch sozialdemokratische Parteien, die sich dem entgrenzten Marktradikalismus angepasst und Europa in diese Richtung bewegt haben. Aus dieser Entwicklung eine eigenständige, fortschrittliche und sozial orientierte Europaerzählung zu entwickeln, ist eine Herausforderung.
Und zugleich – da ist Hacker glasklar – ist das die entscheidende Aufgabe. Denn: Durch einen Rückzug ins nationale Schneckenhaus wäre der Neoliberalismus nicht besiegt, keine der sozialen Hoffnungen erreicht. In einer miteinander verflochtenen Welt können die globalen Risiken nicht mit Mitteln des historischen Nationalstaats bewältigt werden.
Immense Bereicherung für die aktuelle politische Debatte
Wesentlich ist für Hacker allerdings, die Frage um die Zukunft Europas nicht auf ein simples „mehr“ oder „weniger“ Europa zu verkürzen, sondern konkrete Reformvorstellungen auf Grundlage des „status quo“ zu entwickeln. Damit grenzt er sich auch von den weitreichenden Vorschlägen Ulrike Guérots ab, die mit ihrem Vorschlag einer „Neugründung“ Europas einen radikalen Bruch fordert. Die Grundannahme, dass die bestehende Europäische Union bereits unrettbar verloren sei, teilt Hacker explizit nicht. Es gehe vielmehr um konkrete und sachdienliche Schritte, einen reformistischen Zugang, zur Überwindung der Krisen der EU.
Kenntnisreiche und überzeugende Vorschläge hierzu liefert Hacker dabei jede Menge, etwa zur Vollendung der Währungsunion, zu einem wirtschaftspolitischen Entscheidungsgremium der Eurozone, zur Verteidigung des europäischen Sozialmodells, zur Entwicklung einer europäischen Einwanderungspolitik mit einer Angleichung der Asylstandards und der Errichtung legaler Zuwanderungswege in die EU. Einzelne Staaten könnten dabei voranschreiten, solange sie offen blieben für weitere Länder. Wichtig ist Hacker dabei, dass diese Weiterentwicklung nicht nur auf europäischer Ebene stattfinden kann, sondern komplementär dazu mit einem aktiven staatlichen Gestaltungsanspruch in den Mitgliedsstaaten einhergehen muss. Entsprechend formuliert er auch, was dieser Anspruch konkret für die deutsche (Europa)Politik bedeuten würde.
Die Vorschläge Hackers sind dabei vor allen auf ökonomische Fragen bezogen. Fragen nach einem Ausbau der demokratischen Legitimität werden zwar in seinem Buch gestreift, aber zumindest hier nicht breiter diskutiert. Dennoch: Hackers Buch ist eine immense Bereicherung für die aktuelle politische Debatte. Es verbindet unterschiedliche Aspekte auf eine Art und Weise, die so selten anzutreffen ist und noch seltener gelingt. Klare und nüchterne Analyse wird verbunden mit einem leidenschaftlichen Plädoyer, alle relevanten europapolitischen Diskurse und Positionen dieser Tage werden dargestellt, und das im Rahmen einer knackigen und immer gut lesbaren Schreibe, ökonomische Fachexpertise wird verbunden mit handlungsorientierten Politikempfehlungen. Kurzum: eine klare Leseempfehlung, nicht nur in Zeiten des Europawahlkampfs.
Hacker, Björn: Weniger Markt. Mehr Politik. Europa rehabilitieren. J.H.W. Dietz Nachf. Bonn 2018