
Er lebte in einem Wiener Palais mit Stuck an den Decken, Perserteppichen auf den Böden und Kunst an den Wänden. Sonntags versammelte sich dort die Crème-de-la-crème der Wiener Gesellschaft zum Essen. Ja, Isidor Geller, Kommerzialrat und Berater des österreichischen Staates, hatte es zu etwas gebracht. Aus einem kleinen galizischen Dorf hatte er sich zum Multimillionär hochgearbeitet. Er gehörte dazu.
Bis Österreich 1938 durch den sogenannten „Anschluss“ in das nationalsozialistische Deutsche Reich eingegliedert wurde – und Isidor, wie so viele andere jüdische Menschen, alles verlor. Sein Vermögen, seine Kunstgegenstände. Er wurde verhaftet und starb später als gebrochener, gedemütigter Mann.
Problematischer Umgang mit NS-Raubkunst
„Ich wollte ihm seine Geschichte zurückgeben“, sagt die Journalistin Shelly Kupferberg über Isidor, ihren Urgroßonkel. Das aus dieser Geschichte entstandene Buch – Isidor. Ein jüdisches Leben – stellte Kupferberg am Vorabend des 9. November bei einer Podiumsdiskussion in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung vor. Der Termin war bewusst gewählt worden, im Gedenken an die Pogrom-Nacht am 9. November 1938. Dieser Tag, er ist ein Tag der Erinnerung, des Gedenkens – aber auch ein Tag des Mahnens, des Warnens. Vor antisemitischen Ressentiments in der Gesellschaft, vor Geschichtsvergessenheit.
Die Veranstaltung, die unter dem Motto „Die Treppe der Geschichte heruntersteigen“ stand und von der ZEIT-Redakteurin Cosima Schmitt moderiert wurde, hatte es sich zum Ziel gesetzt, insbesondere ein Thema in Erinnerung zu rufen: das Thema NS-Raubkunst und Provenienzforschung. Die Kunstkritikerin, Wissenschaftshistorikerin und Journalistin Julia Voss verwies darauf, wie problematisch der Umgang mit Raubkunst in Deutschland immer noch sei. So gebe es zwar die sogenannte Limbach-Kommission, die Beratende Kommission NS-Raubgut. Lange habe diese aber keine jüdischen Mitglieder gehabt und in den fast 20 Jahren ihres Bestehens bisher nur um die 30 Fälle bearbeitet. Für den Großteil der Bevölkerung bleibe das Thema Raubkunst abstrakt, weshalb Voss fordert: „Wir brauchen Fälle, wir brauchen Anschauung, wir brauchen Personen.“
Versuche, Lücken zu füllen
Und eine dieser Personen ist Isidor. Trotz intensiver Recherche fand Shelly Kupferberg keines der vielen Bilder, die einst die Wände des Wiener Palais schmückten. Sie betont, dass es beim Thema Raubkunst nicht nur um materielle Werte geht: Es geht um die Menschen, denen diese Kunst einst gehörte, Menschen mit Namen, Persönlichkeiten, Geschichten. Julia Voss stellt fest: „Kunst ist in der Lage, Zeuge zu sein für eine Gegenwelt, die man sich schafft.“ Gerade für das jüdische Bürgertum in Österreich habe Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gehabt: Man konnte zeigen, wer man war. Man konnte zeigen, dass man dazu gehörte.
Dieses Gefühl des Dazugehörens wurde Isidor letztendlich zum Verhängnis, vermutet Shelly Kupferberg. Über 80 Prozent ihres Buches geben Fakten wieder, das, was sie bei ihren Recherchen in Archiven, Museen, alten Briefen und Fotoalben herausgefunden hat. Der Rest aber stellt den Versuch da, Lücken zu füllen. Zu verstehen, warum Isidor nicht rechtzeitig aus Österreich flüchtete. Das nötige Geld hatte er und durch seine Kontakte in der Wiener High Society war er bestens über die politischen Entwicklungen informiert. Er muss also Bescheid gewusst haben, muss gewusst haben, was ihm droht – oder? Kupferberg sagt: „Er dachte wahrscheinlich ‚Mir kann keiner was‘. Er hat sich offensichtlich nicht angesprochen gefühlt, er war nicht wie andere Juden.“ Isidor, der als Israel geboren wurde, ein Vermögen machte – nicht immer mit legalen Mitteln – und alles, was in Wien Rang und Namen hatte, bei sich im Palais begrüßte – er, der perfekt assimiliert war, konnte sich nicht vorstellen, dass er nicht dazu gehörte. Dass man ihm alles nehmen würde.
Wenn nichts von einem Menschen übrigbleibt
Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn nichts mehr von ihm übrigbleibt? Eine Frage, die das Herzstück von Shelly Kupferbergs Buch bildet. Von Isidors Besitz ist nichts mehr erhalten, außer einem Kasten mit silbernem Besteck. Nur die von den Nazis akribisch geführten Listen über den von Jüdinnen und Juden beschlagnahmten Besitz geben Auskunft darüber, was mal war.
„Meine Erbstücke, das sind die Geschichten“, sagt Kupferberg. Am Ende der Veranstaltung zeigte sie ein paar Fotos – und plötzlich war er da: gekleidet wie ein Oktoberfest-Besucher, stolze Haltung, herrischer Blick. Isidor. Sein Besitz, seine Kunst, all das, was er sich aufgebaut hatte, mag ausgelöscht worden sein. Doch Isidor, seine Geschichte – sie bleiben.
Info: Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben. Erschienen bei Diogenes, 256 Seiten, 24 Euro.