Tim Pröse: Jahrhundertzeugen

Wie Hitlers Gegner zu Helden wurden

Peter Schraeder24. Januar 2017
In seinem Buch „Jahrhundertzeugen“ vereint Tim Pröse die letzten noch lebenden Gegner der Nationalsozialisten, Überlebende des Holocausts und ihre Nachkommen. Sie wurden zu Helden ­– nicht nur durch ihre Taten, sondern vor allem durch die Erinnerung an sie.
Tim Pröse: Jahrhundertzeugen
Tim Pröse: Jahrhundertzeugen

„Sie kämpften nicht nur für die Freiheit und sehnten sich nach ihr, sie trugen sie in sich.“ Ein Satz voller Pathos, wie er heute eigentlich nur noch in Filmen vorkommt ­– sofern er nicht ironisch gemeint ist. Tim Pröse meint ihn ernst und man nimmt ihn ihm ab. Denn in seinem Buch „Jahrhundertzeugen“ beschreibt er die Menschen, die sich gegen den Nationalsozialismus auflehnten.

Hitler-Gegner vereint

Über viele Jahre hinweg hat sich der „Focus“-Redakteur mit einigen der letzten noch lebenden Menschen getroffen, die sich entweder selbst gegen die Nazis wandten oder von engagierten Deutschen vor ihnen gerettet wurden. Außerdem besuchte Pröse die Nachkommen derer, die für ihren Widerstand mit dem Tod bestraft wurden. Entstanden ist ein Buch, das sich im Reportage-Format so unterschiedlichen Menschen wie Sophie Scholl, Hans Rosenthal oder der SPD-Größe Klaus von Dohnanyi nähert.

Aber auch eher unbekannte Überlebende haben Platz in Pröses Buch gefunden, etwa Hans-Erdmann Schönbeck. Erst überlebte er Stalingrad, dann war er Zeuge des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. Auch Jurek Rotenberg wird nur einem kleinen Publikum bekannt sein. Berthold Beitz – damals Leiter der Karparten-Öl AG und nach dem Krieg Krupp-Manager – rettete dem jugendlichen Rotenberg das Leben, indem er ihm wie so vielen anderen Juden Arbeit in seiner Firma verschaffte. Und schließlich gibt es Menschen wie Franz Hirth, der bewundernd zu seinem Onkel und Hitler-Attentäter Georg Elser aufblickt.

Medien formen Bild der Nazi-Gegner

Pröses Buch ist ein gutes Beispiel dafür, wie stark das gesellschaftliche Erinnern – Historiker sprechen von „Erinnerungskultur“ – von nichtwissenschaftlichen Geschichtserzählungen beeinflusst und zum Teil geprägt wird. Immer wieder verweist der Autor auf Hollywood-Filme wie „Schindlers Liste“ oder „Operation Walküre“. Pröse besuchte etwa Detlef Hosenfeld, dessen Vater im Krieg das Überleben des jüdischen Musikers Wladyslaw Szpilman sicher stellte – verewigt in Roman Polanskis Film „Der Pianist“.

Doch Pröses Buch ist letztlich auch selbst Teil der Erinnerungskultur und formt ein ganz bestimmtes Bild der Nazi-Gegner, wie etwa im Fall von Claus Schenk Graf von Stauffenberg. In den 50er und 60er Jahren versuchten Medien zunächst, den Widerstand des Offiziers zu würdigen: Vielen Deutschen galt er damals als Verräter. In den 80ern wurde Stauffenberg zum Helden stilisiert. Schließlich formten Fernsehen und Zeitung ab den 90ern das Bild eines Familienvaters, der so als Leitbild für Zivilcourage dienen konnte. In dieser Tradition steht auch Pröses Buch, wenngleich noch andere Facetten anklingen.

Oskar Schindler – ein Held mit Widersprüchen

So versucht er die Vorwürfe gegen Stauffenberg – dass er zu spät gehandelt habe und ein Gegner des Parlamentarismus gewesen sei – zu entkräften. Die Männer des Widerstands hätten ein „Stück deutscher Ehre“ gerettet, argumentiert Pröse und fragt: „Würde ein Stauffenberg-Denkmal mitten in Berlin nicht auch dem modernen Deutschland gut stehen?“ Dem Autor geht es also auch um eine positivere Sichtweise auf den deutschen Nationalismus.

Dennoch zeigt das Buch anschaulich, wie widersprüchlich Heldenbilder seien können ­– und wie stark sich öffentliche und individuelle Erinnerung mitunter widersprechen kann. Dank Steven Spielberg gilt der Industrielle Oskar Schindler heute als Held, der 1200 Juden vor dem Tod bewahrte. Einer der Überlebenden sowie Schindlers Frau erinnern sich an den Retter dagegen eher als trinkenden Frauenheld, der das Abschiedsgeschenk der Geretteten ­– einen Ring aus Zahngold – aus Geldnot verspielt habe. Sie mutmaßen sogar, Schindler habe die Juden vor allem deshalb gerettet, weil er davon finanziell profitierte.

Nazi-Gegner zeigen: Widerstand war möglich

Das besondere an Pröses Buch ist, dass die Lebensläufe sehr verschiedener Menschen in einem Band versammelt sind und so vergleichbar werden. Nur wer versucht, sich in Gegner und Opfer der Nazis hineinzuversetzen, versteht das Ausmaß der NS-Verbrechen und erkennt, dass Widerstand möglich war. Und so kann Pröses dezenter Pathos sehr wohl ernstgenommen werden. Interessant ist auch seine Beobachtung, dass fast alle Porträtierten – ob Retter oder Gerettete – sehr gläubig waren. Das wirft ein starkes Licht auf die Psyche der Menschen, die so viel gewagt und erlitten haben.

Viele der Personen, die in Pröses Buch vorkommen, sind inzwischen tot. Bald wird es keine Zeugen der NS-Zeit mehr geben. Die Bezeichnung „Helden“, die der Autor vornehmen wollte, haben übrigens alle Porträtierten abgelehnt. Niemand entscheidet sich, ein Held zu werden – man wird zum Helden gekürt. Und eine Zeit, in der Helden geboren werden, ist selten eine gute.

Tim Pröse, Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler, Heyne, München 2016, 320 Seiten, ISBN: 978-3-453-20124-8, 19,99 Euro.

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