
Als Kind erscheint die Welt unendlich groß: Hinter jeder Ecke locken Abenteuer, wartet Neues darauf, entdeckt zu werden. Das Leben findet im Augenblick statt, noch verdunkeln keine Zukunftsängste das Gemüt. Manchmal aber erscheint die kindliche Welt auch unendlich klein: Das Leben spielt sich in einem klar abgesteckten Rahmen ab, mit eindeutigen Bezugspersonen. Das Kinderzimmer wird zum Erfahrungsraum, realer als alles, was jenseits des Gartenzauns liegt.
Aufwachsen in der Bonner Republik
Auch in Matthias Brandts Debut „Raumpatrouille“ findet sich dieses Nebeneinander von Weite und Enge, wie sie wohl nur in der Kindheit existiert. Die Kindheit des Schauspielers Brandt dürfte in vielem dem ähneln, was auch andere, in den späten 1960er, frühen 1970er Jahren Kind Gewesene erlebt haben. Und dann auch wieder nicht. Denn Brandt ist eben nicht nur Schauspieler und nun Autor, er ist auch der Sohn Willy Brandts. In kurzen Geschichten, Episoden, erzählt der 1961 geborene Brandt vom Aufwachsen in der Bonner Republik: vom Hund Gabor, von Leberwurstbroten, die doch nicht so gut schmecken wie gedacht, von der Urlaubsreise nach Norwegen und dem Wunsch, Karriere zu machen – als Astronaut, Briefträger oder Torwart. Dann gibt es aber auch noch das Wachpersonal vor dem Haus: Der Politikersohn Matthias Brandt, in den Geschichten wohl zwischen sieben und zehn Jahren alt, wächst im doppelten Sinne behütet auf.
Matthias Brandt verbleibt ganz in der Erfahrungswelt dieses Kindes, das er mal war. Er blickt mit großen Augen auf die Welt, beobachtet, hält fest. Mal selbstironisch, mal wehmütig. Eine gewisse Melancholie durchzieht die 14 Geschichten, ein Hauch von Einsamkeit – aber ebenso von Aufbruch, von Möglichkeit. Ein Bettbezug verwandelt den kleinen Matthias im Handumdrehen in einen Zauberer, das Briefmarkensammelalbum verheißt eine glorreiche Zukunft, das Torwartoutfit macht aus einem dünnen Jungen einen selbstbewussten Mann. Alles was es braucht, ist die eigene Fantasie. Sie erschafft Welten, Zukunftsszenarien.
Kein privater Einblick in die Familie Brandt
Zwar gibt es in „Raumpatrouille“ viele intime, nahe Momente – ein privater Einblick in das Leben der Familie Brandt ist es aber nicht. Zu Anfang seines Buches macht Brandt klar: „Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.“
Der berühmte Vater ist eher eine distanzierte Präsenz. Er ist oft nicht da, und wenn er da ist, nicht erreichbar für seinen kleinen Sohn. Matthias Brandt erzählt von einem Ausflug mit Vater und Mutter zum Rummel, der sich als Inszenierung für die Presse entpuppt. Er erzählt von der Angst, den schwer beschäftigten Vater zu nerven. In einer der unterhaltsamsten Geschichten bricht der Ich-Erzähler mit seinem Vater und dessen Arbeitskollegen „Herrn Wehner“ zu einer Radtour auf. Die beiden Herren sollen ihre Meinungsverschiedenheit klären, der Sohn dabei als Puffer fungieren. Wie widerwillig Vater Brandt das Fahrrad besteigt, wie steif die Truppe samt Sicherheitspersonal durch den Park fährt – das alles liest sich herrlich unterhaltsam. Die Geschichte endet mit einem wütenden Vater im Gemüsebeet, umgeben von seiner hilflosen Entourage. Der Sohn denkt mit schlechtem Gewissen: „Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen“.
Von Vater und Sohn
Brandts Sprache ist schnörkellos, schlicht. Und doch von einer feinen Melodie unterlegt, die die feinen Beobachtungen des jungen Ich-Erzählers zum Klingen bringen. Wie passend, das „Raumpatrouille“ nicht für sich allein steht, sondern Teil eines Projektes ist: Das Buch entstand im Austausch mit dem Musiker Jens Thomas, der sich auf dem parallel erscheinenden Album „Memory Boy“ dem Thema Kindheit widmet.
Brandts Kindheitserinnerungen enden mit einem zärtlichen Moment zwischen Vater und Sohn. Der Vater liest dem Sohn aus einem Buch vor, der Sohn kann sein Glück kaum fassen: „Den Kopf schließlich, nach kurzem Zögern, erst auf seiner Schulter, dann in seinem Schoß, schaute ich nach oben, sah die ledrigen Wangen mit dunklen und grauen Bartstoppeln und war kurz versucht, sie zu berühren. Aber keineswegs wollte ich den Moment zerstören.“ Auch das kann Kindheit sein – die weite große Welt, eingefangen in einem einzigen nahen Augenblick.
Matthias Brandt: „Raumpatrouille. Geschichten“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 8. September 2016, ISBN 978-3-462-04567-3Info zum Buch