
Wir sind tief berührt, wenn sehr alte Frauen und Männer als Nebenkläger in den letzten NS-Prozessen erscheinen und stockend berichten, was ihnen von den ebenso alten Tätern einst angetan wurde. Wir studieren die Gesichter dieser einstigen SS-Männer, suchen nach sichtbaren Spuren ihrer unvorstellbaren Grausamkeit. Wir fragen uns, wie die in deutschen KZs Gepeinigten mit ihren Erinnerungen leben und denken dabei vielleicht an einen Satz des einstigen Leiters der Zentralstelle zur Verfolgung von Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg, Adalbert Rückerl: „Die Täter schlafen gut, ihre Opfer leiden an Schlaflosigkeit.“
Was lernen wir aus der Geschichte?
Anders gesagt: Lernen wir aus der Geschichte – und wenn, was? Die frühen Reaktionen auf die NSU-Morde („Döner-Morde“), Pegida, Neonazis, NPD-Wähler, der Wahnsinnserfolg des unsäglichen Buches von Thilo Sarrazin, die Hetze gegen Muslime und Flüchtlinge, der immer wieder aufflammende Antisemitismus – das alles lässt daran zweifeln, dass die Konfrontation mit dem Nazi-Mordregime nach siebzig Jahren noch tiefe Spuren hinterlässt.
Dabei fehlt es nicht an Anstrengungen: Schulklassen reisen nach Dachau und Auschwitz, es gibt Gedenktage, und die dort gehaltenen Reden werden im Fernsehen übertragen. Im Schulunterricht hat die Auseinandersetzung mit der Nazizeit einen festen Platz. Es gibt zahllose Gedenkorte – oft in privater Initiative entstanden – und Gedenkstätten wie Dachau oder Bergen-Belsen, Sachsenhausen oder Buchenwald sind gut besucht.
Und dennoch wird gläubigen Juden im Jahre 2015 davon abgeraten, sich in bestimmten Stadtteilen oder von Neonazis dominierten Gebieten mit der Kippa in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Immer wieder werden jüdische Friedhöfe verwüstet, und Synagogen müssen – anders als christliche Kirchen – von der Polizei bewacht werden.
So viel Gedenken, so viel glaubwürdiger guter Wille in der Politik, der Pädagogik, bei engagierten Privatleuten und dennoch wächst der latente und offene Antisemitismus. Je nach Umfrage bekennen sich 15 bis 20 Prozent der Befragten zu Vorbehalten gegen Juden oder offenem Antisemitismus.
Peter Steinbach sieht keine Alternative zu geduldiger Aufklärung, zu politischer Bildung, um den Relativierern und den Gleichgültigen wirkungsvoll begegnen zu können. Er schreibt in seinem leidenschaftlichen, zutiefst humanen Text:
Mehr als Kranzabwurfstellen
„Gedenktage, Denkmäler, geschichtspolitische Diskussionen sollten die Sinne schärfen, nicht abstumpfen. Sie sollen eine Herausforderung, ein ‚Stachel im Fleisch der Nachlebenden‘ sein, aber nicht zur ‚Kranzabwurfstelle‘ oder zur historisch-politischen Besinnungsstunde, zum Ausdruck einer ‚Zivilreligion‘ werden. Denn immer geht es um Menschen, um ihren Umgang, um Grenzen und Ziele des Staates, um den Grund von Politik. Denn dies ist die Erbschaft, die Hypothek deutscher Vergangenheit: Die deutsche Geschichte macht deutlich, wie wenig dazu gehört, aus Mitmenschen Gegenmenschen werden zu lassen, die verachtet und geächtet, deportiert und vernichtet werden.“
Menschen verdrängen allzu unerträgliches Wissen, wenn die Bürde zu groß ist. Das gilt nicht nur für Täter und ihre Nachkommen, das gilt auch für die von ihnen gequälten Menschen, vor allem, so Steinbach, „so lange sie kaum Menschen fanden, die ihnen zuhörten, mit ihnen empfanden.“
Steinbach glaubt fest daran, dass Gedenkstätten dieser Verdrängung entgegenwirken können. Für ihn geht es dabei längst nicht mehr nur um die Vergangenheit: „Völkermord ist nicht nur ein historisches Phänomen, es berührte die Gegenwart und ereignete sich immer wieder vor unseren Augen – ob in Zentralafrika oder auf dem Balkan.“
Peter Steinbach: „Nach Auschwitz“, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., 112 Seiten, 14,90 Euro