Er sei ein Fotojournalist, ein Fotoreporter, sagt er von sich: „Dass ich der Chronist von Istanbul bin, ist überhaupt der wesentlichste Aspekt.“ Er hat sich in dieser Woche noch einmal auf den Weg nach Deutschland gemacht und Istanbul verlassen, genauer gesagt sein schmales Haus in der engen Gasse neben dem Wirtshaus Ara im Stadtteil Beyoglu. Da, wo die Stadt am Goldenen Horn immer noch ein wenig so ist, wie sie es einmal war: Ara Gülers Istanbul, „das alte, das verlorene Istanbul, das heute kaum noch wahrnehmbar ist“. In dem er 1928 geboren wurde, in dem er gelebt hat und in dem er seit 1950 fotografiert.
Der 86-Jährige sitzt in einem tiefen Sessel. Sein Kollege und Freund Hasan Senyüksel steht hinter ihm. Aus 14.000 Fotografien hat Senyüksel gemeinsam mit Gisela Kayser vom Freundeskreis Willy-Brandt-Haus 200 Bilder ausgesucht, die aktuell eine Retrospektive im Willy-Brandt-Haus zeigt. Ara Güler ist ein freundlicher Mann, „mit einem großen Herz und er liebt die Menschen“, sagt Senyüksel lächelnd. Güler lächelt auch durch seinen dichten grauen Bart. Seine wachen Augen schauen den Besucher an. Das sei seine letzte Auslandsreise. Er wollte die prachtvolle Ausstellung seiner Schwarz-Weiß-Arbeiten selbst sehen. Jim Rakete hat Ara Güler im Vorjahr besucht, mit ihm gedreht und ihn fotografiert, einfühlsam und humorvoll. Güler sieht den Film Raketes am Abend der Ausstellungseröffnung mit sehr vielen Gästen und lächelt, nickt.
Güler erfasst Istanbul in all seiner Poesie und Vielfalt
Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk, 1952 ebenfalls in der Stadt am Bosporus geboren, hat viele Seiten seines Romans „Istanbul, Erinnerungen an eine Stadt“ in Ara Gülers Archiv in Beyoglu geschrieben. Güler ist der Chronist der Stadt, Pamuk der literarische Historiker. Immer wieder hat Pamuk Gülers Fotografien betrachtet. Er glaubt, dass er durch sie erst richtig gelernt hat, „wie man Istanbul anschauen muss und was es dort zu sehen gibt. Es ist das große Verdienst Ara Gülers, nicht nur meine eigenen visuellen Erinnerungen, sondern die von Millionen Menschen in all ihrer Poesie und Vielfalt erfasst und bewahrt zu haben.“ Der alte Fotograf hat dem nur hinzugefügt: „Wenn ich die Hagia Sofia fotografiere, ist für mich am wichtigsten der Mensch, der an ihr vorbeiläuft. Ein guter Fotograf muss die Menschen lieben.“
Güler hat so viele Preise, Ehrungen und Auszeichnungen bekommen, sie können hier nicht alle erwähnt werden. Er hat so viele Reise gemacht, durch sein Land, in den Nahen Osten und nach Asien, und er hat überall fotografiert. Menschen. Immer wieder Menschen. Wie die in einem Tanzlokal in seinem Stadtteil 1969. Vier Musiker spielen auf einer engen Bühne zum Tanz auf: Im Vordergrund das Publikum an den Tischen, auf der Bühne eine junge Frau. Der Betrachter sieht geradezu ihre Bewegungen und die eines alten Mannes vor ihr, der hüpft und springt. Güler stört in der Szene nicht, er wird nicht einmal bemerkt, als er das Foto macht. Es ist ein Foto, wie es vielleicht noch sein verstorbener Freund Henri Cartier-Bresson gemacht hätte, der Meister des entscheidenden Moments. „Als Fotograf der Menschen möchte ich ihre Freuden, Dramen, ihre Art zu leben, alles was zum Menschen gehört, aufnehmen“, sagt Güler. „Fotografie ist ein Mittel der Aufzeichnung, sie muss erzählen und du musst etwas daraus schließen können. Das macht Fotografie attraktiv.“
Fotografien voller Zuneigung und Liebe
Er hat eine leise, warme Stimme und sehr wache, lebhafte Augen, der Mann, der Maria Callas, Alfred Hitchcock, Marc Chagall, Tenessee Williams, Sophia Loren und Picasso fotografiert hat. Bescheiden bezeichnet er sich immer wieder als Fotoreporter: „Ich habe eine Komposition in meinen Fotos, die dem Film entnommen ist. Meine Aufnahmen zeigen Szenen in der Art eines Dokumentarfilms.“ Das trifft voll zu. Ara Gülers Motive sind nie monumental. Er fotografiert die Menschen voller Zuneigung: „Die Liebe zu den Menschen ist das Wichtigste: Davon hängt alles ab, denn alles, also auch die Fotografie, ist für die Menschen da.“