Rezension: Götz Aly, „Volk ohne Mitte“

Die deutschen Historiker und der Nationalsozialismus

Matthias Dohmen30. April 2015
Aufsätze und Vorträge aus den letzten 20 Jahren, teilweise überarbeitet oder miteinander verwoben, veröffentlicht der streitbare Historiker Götz Aly in seinem Buch „Volk ohne Mitte“. Vor allem setzt er sich mutig und ungeniert mit der eigenen Zunft auseinander.
Götz Aly: "Volk ohne Mitte", Fischer Verlag

Ausführlich widmet sich Aly den beiden Übervätern der deutschen Geschichtsschreibung Werner Conze und Theodor Schieder. Sie waren Handlanger des nationalsozialistischen Staats und von dessen Wissenschaftspolitik. Doch das, genau wie ihre Formulierungsdienstleistungen für Heinrich Himmler, wurde erst, nachdem beide tot waren, auf einem Historikertag thematisiert. Das war 1998.

Schieder und Conze (und Gerhard Ritter und Hermann Aubin und Hermann Heimpel, um die vielleicht Wichtigsten zu nennen) pflegten nach Niederlage und Befreiung „den Anschein, als hätten sich zwar Ärzte, selbst Zahnärzte, Fürsorgerinnen und Industriearbeiter, Beamte, Lehrer und Juristen, Dirigenten, Unternehmer und Bankiers dem Hitlerismus in die weit geöffneten Arme geworfen, doch seien Geschichtswissenschaftler standhaft geblieben“, schreibt Aly.

Doch das waren sie nicht, auch wenn sich so honorige Leute wie Jürgen Kocka oder Hans-Ulrich Wehler und zuletzt noch der Düsseldorfer Christoph Nonn für die Ex-Nazis in die Bresche geworfen haben. Ihre Verdienste an dieser oder jener Stelle mögen unzweifelhaft sein: Distanziert von ihrem fatalen Wirken haben sich Conze und Schieder zu keiner Zeit.

Das „Volk ohne Mitte“

Aly zeigt, wie sehr nach 1945 der Korpsgeist und Karrierismus die Erforschung der NS-Vergangenheit noch lange behinderten – selbst in der Max-Planck-Gesellschaft und an historischen Instituten. Bemerkenswert sind auch seine Ausführungen über das „Volk ohne Mitte“, dessen intellektuelle Elite noch immer an einer Geschichts- und Erinnerungspolitik strickt, die darauf hinausläuft, „den Massencharakter des Nationalsozialismus zu leugnen“.

Aly, der sein Diktum vom „Volk ohne Mitte“ in der Nähe von Helmuth Plessner „verspäteter Nation“ und den Vorstellungen vom „deutschen Sonderweg“ ansiedelt, schreibt wörtlich: „Die Agitation der NSDAP zielte von Anfang an auf die fehlende, zumindest schwache, ungenügend strukturierte, stets gefährdete Mitte, psychologisch gesprochen: auf das mangelhafte Selbst- und Nationalbewusstsein der Deutschen.“

Dass er manchmal arg zuspitzt, ist man von ihm gewohnt und sieht man ihm, der ein geschliffenes Deutsch voller Widerhaken schreibt, gerne nach. Er schießt jedoch mit der einen oder anderen polemischen Aussage übers Ziel hinaus. So ist die Gestalt des „Alfred Fretwurst“, die er Uwe Johnson entlehnt, überzeichnet, den er als revolutionären Matrosen 1918, als Unterstützer des Hitler-Putschs 1923, Beteiligten an der „Reichskristallnacht“ und als einen derjenigen sieht, die die Mauer überwunden haben. Die erste in Deutschland nach 1945 wieder zugelassene Partei war übrigens nicht die SED, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab, sondern die KPD.

Aber das ist eine lässliche Sünde. Die elf Beiträge und das zusammenfassende Einleitung lohnen unbedingt die Lektüre. Auch Historiker dürfen ihr Publikum unterhalten.

Götz Aly: „Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 266 Seiten, 21,99 Euro. ISBN 978-3-10-000427-7

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