
Ab Beginn der 1990er Jahre fand „Politische Korrektheit“ als Schlagwort immer größere Verbreitung. Gemeint war damit die Ablehnung von Formulierungen, welche die Angehörigen bestimmter Minderheiten als diskriminierend oder verletzend verstehen würden. Es ging bei diesen Einwänden um ein Mehr an Sensibilität bei der jeweiligen Wortwahl. Indessen griffen aber gerade die hier Gemeinten die „Politische Korrektheit“ bzw. die „Politische Unkorrektheit“ auf, um sich selbst als Benachteiligte oder Nonkonformisten darzustellen.
Gleichzeit konnte man so Einwände gegen die eigenen Positionen verdammen, galten sie doch als Ausdruck jener Korrektheitseinforderungen. Ähnliche Beobachtungen könne man in der Gegenwart machen, wenn es um den Begriff „Cancel Culture“ gehe. Das meint jedenfalls Adrian Daub, der als Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Standford University lehrt. Begründen will er das in seinem Buch „Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst“.
Viel Lärm um nichts?
Bei der kursierenden Anklage darüber, dass unliebsame Auffassungen aus dem öffentlichen Diskurs verdammt würden, handele es sich um einen Wiederholungsdiskurs. Die gleichen Denkmuster und Kniffe artikulierten sich erneut in einer moralischen Panik, eben in der Angst vor einer um sich greifenden „Cancel Culture“. Dazu bemerkt Daub: „Steht das Interesse an den Phänomen um angebliche Zensur, Identitätspolitik und ‚Wokeness‘ bereits in den USA in keiner Relation zu ihrer objektiv belegbaren Verbreitung und Gravität, klafft die betreffende Schere in Europa noch weiter auseinander“.
Der Autor leugnet dabei nicht einzelne Ereignisse, die als Anlass für entsprechende Eindrücke auszumachen seien. Gleichwohl belege dies nicht die aufgezeigte Gefahr. „Es gibt solche Vorfälle. Die Frage ist, inwiefern und wie sie der Rede wert sind“, heißt es bei Daub bezogen auf die Relevanz lapidar. Man müsse hier eher von einer Disproportionalität sprechen, was auch der Blick in einschlägige Datenbanken mit den gemeinten Fällen zeige.
Politisch motivierte Narrative
Entlang dieser Ausgangsthese des Buchs wird in den folgenden Kapiteln aufgezeigt, dass die gemeinten Diskurse eine lange literarische wie reale Tradition haben. Der Autor blickt dazu auf Deutschland, aber auch mit seinem Gastland auf die USA. Dort sei im Campus-Roman schon länger die „Cancel Culture“ ein Thema gewesen, was „Der menschliche Makel“ von Philip Roth mustergültig veranschauliche. Für das gemeinte Phänomen gilt als bedeutsamster Ort die Universität, die in den zu „Cancel Culture“ bestehenden Diskursen als homogene Einrichtung präsentiert werde. Es handele sich aber meist nur um Anekdoten, würden die gemeinten Ereignisse doch nur selten systematisch aufgearbeitet.
Für den Autor dienen sie eher dazu, politisch motivierte Kampagnen voran zu treiben. Und dann finden sich auch viele Beispiele bei Daub dafür, dass konservative Medien mit entsprechenden Narrativen wirkten. Dabei agierten ausgerechnet Akteur*innen dieses politischen Lagers im diskursiven Rückgriff auf liberale Wertvorstellungen zu ihrer scheinbaren Verteidigung.
Einseitigkeit des Autors
Das Buch endet mit der Feststellung: „Der Kampf gegen Cancel Cultur mag sich als Speerspitze eines wehrhaften Liberalismus verstehen. In Wahrheit ist er Teil des Backlash, der die liberale Demokratie überhaupt erst bedroht.“ Angemessen ist sicherlich die Auffassung, dass mit der Aversion vor einen „Cancel Cultur“ die Erörterung von problematischen Positionen verunmöglicht wird. Dann gelten letztendlich kritische Einwände als ausgeübte Zensur.
Bedenklich ist indessen bei Daub angesichts seiner Einseitigkeit, dass er unangemessene Kampagnen gegen Wissenschaftler*innen nicht stärker thematisiert. Er macht es sich mit dem Argument, es handele sich nur um wenige Fälle, in der Gesamtschau etwas zu einfach. Derartige Gegebenheiten kritisieren mittlerweile auch linke Intellektuelle, womit sich die pauschale Auffassung von einer politischen Kampagne von rechts schnell widerlegen lässt. Insofern stellt Daub einer bestehenden Einseitigkeit seine Einseitigkeit gegenüber. Dabei müssen die Lesenden beim Reflektieren aber nicht stehen bleiben.
Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst, Suhrkamp-Verlag 2022, 371 S., ISBN 978-3-518-12794-0, 20 Euro