
Es sind die Ursachen und Folgen von Flucht und Vertreibung in Europa seit dem 16. Jahrhundert, die der angesehene Historiker Philipp Ther von der Universität Wien in seinem Buch analysiert. Seine Kernthesen: Was Europa derzeit erlebt, ist weder außergewöhnlich noch für die Ankunftsländer so belastend wie es vielen Menschen erscheint. Fast immer haben jene Länder, die Ziel der Fluchtbewegungen waren, auf längere Sicht profitiert von den Zuwanderern. Das gilt nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit, als Ende des 15. Jahrhunderts Juden in großer Zahl aus Spanien flohen.
Keine Epoche ohne Flucht und Vertreibung
Ther ist ein exzellenter Schreiber, meinungsstark, und er steht auf der Seite jener, die vor religiöser oder politischer Verfolgung, vor Hunger oder Naturkatastrophen fliehen. Die Sorgen und Nöte der aufnehmenden Länder werden dennoch nicht verleugnet. Was das Buch besonders eindringlich macht, sind die vielen Kurzbiografien von Schutz suchenden Menschen, die er in seinen Text eingestreut hat.
Wer glaubt, Mittel- und Nordeuropa seien heute besonders belastet, wird durch den Blick auf die letzten 500 Jahre eines Besseren belehrt: Zum Beispiel die Geschichte von Frankfurt am Main. Die Stadt war 1685 ein Städtchen mit 30.000 Einwohnern und nahm 100.000 aus Frankreich geflohene Hugenotten auf!
Was Thers Blick zurück immer wieder zeigt: Es gab in den letzten 500 Jahren in Europa praktisch keine Zeit ohne Flucht und Vertreibung. Die friedlichen 70 Jahre, auf die vor allem Westeuropa heute zurückblicken kann, sind Ausnahmen in der Geschichte.
Deutschland war immer Aufnahmeland
Deutschland war in den letzten Jahrzehnten – anders als in früheren Zeiten, in denen ganze Dörfer geschlossen vor Hunger und Hoffnungslosigkeit nach Amerika flohen – immer Aufnahmeland. Zwölf Millionen Heimatvertriebene hatte die Bundesrepublik, selbst ein Ruinenland, nach dem Zweiten Weltkrieg aufzunehmen. Viele hunderttausend Menschen kamen in den achtziger und neunziger Jahen des letzten Jahrhunderts aus Polen, der Sowjetunion oder aus Rumänien und beriefen sich dabei auf eine meist weit zurückliegende ethnische Zugehörigkeit zu Deutschland.
Es kamen in den fünfziger Jahren Ungarn in großer Zahl, ein Jahrzehnt später Tschechen nach dem Ende des Prager Frühlings. Während des Balkankriegs in den neunziger Jahren suchten Familien aus Exjugoslawien Schutz im Westen. Proteste dagegen gab es keine.
Das galt zunächst auch für die Kriegsflüchtlinge aus Nahost und Afghanistan und die in ihren Heimatländern Chancenlosen aus Nordafrika und anderen afrikanischen Ländern. Das Wort „Willkommenskultur“ ging in den deutschen Sprachgebrauch ein, bis vor allem das Verhalten alleinreisender junger Männer die Stimmung zum Kippen brachte.
Vieles hat sich nach dem letzten Weltkrieg vor allem dank der UNO-Flüchtlingsorganisation zum Besseren verändert, das zeigt Ther an einem besonders einprägsamen Beispiel: 1923 (!) suchten Hunderttausende nach einem Fluchtweg aus dem Osmanischen Reich. In unzulänglichen Booten flohen die Menschen übers Meer in das davon völlig überforderte Griechenland. Geschätzte 70.000 Menschen ertranken, verhungerten in den Lagern oder starben an Seuchen.
Integration statt Mauern und Zäunen
Philipp Ther befasst sich in seinem Buch nicht nur mit der Lage der Flüchtlinge, sondern auch mit der Stimmung in den aufnehmenden Ländern. Und da ist – trotz aller nationalistischen Töne, trotz massiver Ablehnung und der schändlichen Übergriffe auf Flüchtlingsheime – die Lage alles in allem gar nicht so schlecht. Der Historiker zitiert aus einer aktuellen Studie der Bertelsmannstiftung, nach der 77 Prozent der Befragten der Integration positiv gegenüberstehen. Nur 23 Prozent beharren darauf, es handle sich um „Gäste auf Zeit“.
Thers wissenschaftlich sorgfältig belegtes Fazit aus seiner Geschichte der Flucht und der Aufnahme über 500 Jahre hinweg: „Integration hat sich als ein besseres Mittel zur Lösung vermeintlicher oder tatsächlicher Flüchtlingskrisen erwiesen als der meist vergebliche Versuch, Mauern und Zäune zu bauen oder zu Gewaltmaßnahmen wie am Eisernen Vorhang zu greifen.“
Die letzten Zeilen seiner Geschichte von Flucht und Ankunft lauten: „Wie die Integration jener Menschen verlaufen wird, die seit 2015 geflüchtet sind, können erst künftige Historiker erforschen. Eines Tages kann man hoffentlich ein Buch darüber schreiben, wie sie es schafften.“
Philipp Ther: „Die Außenseiter“, Suhrkamp Verlag, 436 Seiten, 26 Euro