Rezension

Anna Mitgutsch: Die Annäherung – Das 1968-Erlebnis

Matthias Dohmen11. Mai 2016
Ein großartiger Roman: Anna Mitgutsch verschränkt eine zeithistorische Auseinandersetzung mit einer Liebesgeschichte. Im Mittelpunkt steht der alte und gebrechliche Theo, der sich in den letzten Monaten seines Lebens Dinge traut, die er zuvor nicht gewagt hat.
 Anna Mitgutsch: „Die Annäherung
Anna Mitgutsch: „Die Annäherung. Roman“, Luchterhand Verlag 2016, 442 Seiten, 22,99 Euro

Theo hatte sich, heißt es im ersten Kapitel, „immer vorgestellt, am Ende würde noch einmal etwas Großes kommen, eine besondere Genugtuung, eine wichtige Erkenntnis, ein unerwartete Glück“.

Es beginnt damit, dass sich Theos Tochter in den späten 1960er-Jahren mit den Gräueltaten der deutschen Wehrmacht im Osten Europas auseinandersetzt und ihr Vater allen Fragen ausweicht, welche Rolle er dabei gespielt habe. Im letzten Kapitel besucht Frieda, so ihr Name, die Gegend um Lemberg, das im Lauf der Geschichte mehrmals den Besitzer wechselte und unterschiedlichen Volksgruppen eine – zeitweilige – Heimat bot: Ruthenen, Armeniern, Polen, Deutschen, Österreichern, Ukrainern und Russen, Juden.

Kriegsaufzeichnungen des Vaters

Und sie findet Kriegsaufzeichnungen des Vaters. Allerdings: Es fehlen in dem knapp, aber penibel geführten Tagebuch einige Monate, die zu den schrecklichsten Erfahrungen der Lemberger zählten. Und dann verliebt sich der alte Mann in eine junge ukrainische Pflegerin, in Ludmila, auch Mila oder „zärtlich verstohlen“ Mili genannt, die aus dem heutigen L’viv kommt: „Lemberg?, fragte er. Da war ich auch im Lazarett, aber von der Stadt habe ich nichts gesehen. Mein Großvater kommt auch aus den Karpaten, verriet er ihr“.

Die untergegangene Welt der Celan, Rose Ausländer und Merbaum

Theo sagt viele kluge Sätze, zum Beispiel den, man verstehe „das Leben erst, wenn es zu Ende geht“. Die ukrainische Pflegekraft lässt den Alten noch einmal aufblühen, auch wenn Ludmila, die überstürzt nach Hause zurückgekehrt war, nicht wieder an ihre österreichische Wirkungsstätte zurückkehrt: Sie lebt in jener europäischen Ecke, deren untergangene Welt wir aus Romanen und Gedichten Rose Ausländers, Paul Celans oder Selma Merbaums kennen, ihr eigenes Leben.

„Die Annäherung“ ist zweifellos Anna Mitgutschs bisher stärkstes Werk. 1948 im österreichischen Linz geboren, hat sie Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und US-amerikanischen Universitäten gelehrt und zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Sie übersetzt Lyrik und verfasste insgesamt neun – zumeist bei Luchterhand erschienene – Romane und zuletzt den Essayband „Die Welt, die Rätsel bleibt“.

Anna Mitgutsch: „Die Annäherung. Roman“, Luchterhand Verlag 2016, 442 Seiten, 22,99 Euro