Sabine Pamperrien: „Helmut Schmidt und der Scheißkrieg“

Der Altbundeskanzler in der deutschen Wehrmacht

Matthias Dohmen09. April 2015
Mit „Helmut Schmidt und der Scheißkrieg“ legt die promovierte Historikerin und Journalistin Sabine Pamperrien eine wissenschaftlich einwandfreie, materialreiche und flüssig zu lesende Arbeit vor.
"Helmut Schmidt und der Scheißkrieg"

Dass sie in ihrem Urteil manchmal etwas harsch ist, mag man für verzeihlich halten. Immerhin: Viel Neues kommt ans Tageslicht auch dank der „großzügigen Genehmigung“ des Altbundeskanzlers, seine Wehrmachtsakte und andere bisher unter Verschluss befindliche Unterlagen Pamperrien zur Verfügung zu stellen und so ein vollständigeres Bild zu ermöglichen, als es bislang möglich war.

Über das Rudern zur Hitlerjugend

Indirekt von sich selbst spricht Helmut Schmidt, wenn er mit Blick auf die NS-Zeit über den legendären „stern“-Journalisten Henri Nannen schreibt, dass dieser „den Zwiespalt, den wir alle kennen“, stark empfunden habe, den Zwiespalt nämlich „zwischen dem uns Deutschen anerzogenen Pflichtbewusstsein einerseits und der Einsicht, dass das alles Blödsinn war, was wir machten, oder Verbrechen waren oder jedenfalls fehlerhaft“ andererseits.

Schmidt ist stark von der Lichtwarkschule und den Reformschulinitiativen auf der einen und der „Volksheim“-Bewegung auf der anderen Seite beeinflusst worden, die ihrerseits Schnittmengen mit der nationalsozialistischen Ideologie hatten. Das lässt sich auch personell nachweisen. Zur Hitlerjugend kam der junge Schmidt über das Rudern, eine Sportart, in der er herausragend war, was ihn für den braunen Staat interessant machte.

Schmidts „anständiger Verein“

Von der Begeisterung für sportliche Leistungen und Lagerfeuerromantik bis zum Eintritt in die Hitlerjugend war es für Schmidt nicht weit. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Nazis aus zweifellos nicht ganz lauteren Gründen Kindern aus „bildungsfernen“ Schichten den Zugang zu höheren Schulen ermöglichten.

Helmut Schmidt wird Soldat und Offizier der deutschen Wehrmacht, dessen höhere Dienstgrade ihre „traditionelle elitäre Haltung gegenüber den Mannschaften aufgeben und neue Umgangsformen entwickeln“ sollten, aber auch sich klar der NSDAP unterzuordnen hatten. Die Autorin überinterpretiert Schmidts „vorzeitigen Antritt des Wehrdienstes“, den sie als „bewusstes Bekenntnis zur Militarisierung und den damit verbundenen politischen Aspekten“ zu deuten empfiehlt.

Nicht-Wissen oder Nicht-Wissen-Wollen

Ein „anständiger Verein“, wie es in Schmidts Buch „Kindheit und Jugend unter Hitler“ 1992 heißt, war die per Fahneneid an Hitler gebundene deutsche Armee nicht und konnte sie vor allem in Polen und der UdSSR, aber auch im übrigen Europa nicht bleiben. Dass der langjährige Kanzler als Wehrmachtsangehöriger hier und da Dinge nicht sah, die er hätte sehen können oder müssen, ist nach der Lektüre des Buches unabweisbar. Dass er persönlich an Verbrechen beteiligt gewesen sei, hat noch niemand behauptet. Und dass ihn sein phänomenales Gedächtnis an dieser oder jener Stelle verlässt – bei wem ist das nicht so?

Allerdings wunderte sich selbst Schmidts Tochter Susanne, die ihren Vater nach der Lektüre des Entwurfs seines Buchs „Kindheit und Jugend unter Hitler“ schrieb: Es werde nicht klar, „warum du so lange ein politisch nicht denkender, ein apolitischer Mensch gewesen bist. Das Nicht-Wissen oder Nicht-wissen-Wollen über die Judenfrage kommt entschieden zu kurz“. Schmidts daraufhin erfolgte Nachbesserungen blieben, was seine eigene Person anging, unpräzise. Pamperrien stimmt in ihrer Einleitung Max Frisch zu: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ 

Sabine Pamperrien: „Helmut Schmidt und der Scheißkrieg. Die Biografie 1918 bis 1945“, Piper Verlag, München/Zürich 2014, 347 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-492-05677-9